Ostreise 6 – Kraupischken, Gumbinnen und zu Fuß durch Insterburg

Die Vielfalt an Emotionen, die ich hier in Ostpreußen erlebe ist groß: Nach wie vor Trauer über all das, was verloren gegangen ist, besonders durch die sinnlosen Zerstörungen eines sinnlosen Krieges. Wut darüber, dass die neuen Bewohner der alten Städte das, was der Krieg hat stehen lassen, achtlos haben verfallen lassen. Und gleichzeitig das Gefühl, dass das, was die alte Heimat ausgemacht hat, die Energie, noch immer hier ist. Auch wenn die Ostpreußen ein kunterbunt aus Einwanderern zusammengemischtes Volk waren, haben sie sich in nur wenigen Jahrhunderten dennoch eine eigene Identität geschaffen. Man kann sie noch heute spüren.

Direkt nach dem Frühstück brechen wir zu einer Tour über Kraupischken nach Gumbinnen auf (Notiz an mich selbst: Der automatischen Rechtschreibung unbedingt das Wort „Gumbinnen“ beibringen, damit sie es nicht ständig in „Gummibären“ ändert). Zuvor machen wir jedoch noch am Bahnhof Insterburg halt. Die alten Insterburger in der Gruppe erzählen, dass der Bahnhof heute noch so ähnlich aussieht, wie zu der Zeit als sie fliehen mussten. Die Vorstellung, dass dies vielleicht der Ausgangspunkt der Flucht meiner Großmutter war, macht mir eine Gänsehaut.

Nächster Stopp ist im traditionsreichen Trakehner Gestüt Georgenburg. Es wurde 1722 gegründet und brachte bis zum 2. Weltkrieg eine Reihe berühmter Pferde hervor. Im 19. Jahrhundert kam das Gestüt in Staatsbesitz, nach dem Krieg in russischen Staatsbesitz und wurde schließlich in den 1990er Jahren privatisiert. Heute werden hier immer noch Pferde gezüchtet.

Es geht weiter nach Kraupischken, wo wir das private Ostpreußenmuseum von Juri besuchen, dem pensionierten Leiter der Ortsschule. Er hat in den letzten 20 Jahren unzählige Gegenstände und Informationen über das alte und neue Ostpreußen zusammengetragen. Besonders stolz berichtet er darüber, dass über seine Sammlung und auch über die Einträge in den Gästebüchern schon über 200 Besucher lange vermisste Verwandte wiedergefunden haben. Die reichhaltige Substanz, die Energie des alten Ostpreußens ist hier mit Händen greifbar. Wieder fühle ich unendliche Trauer.

Über die alte Gumbinner Chaussee, eine wunderschöne Allee, geht es weiter nach Gussow, dem frühere Gumbinnen. Unser Reiseführer Iwan erzählt uns, dass diese Stadt seit einer Reihe von Jahren einen jungen, sehr engagierten Bürgermeister hat, der aus der Region stammt. Seitdem geht es mit Gumbinnen bergauf und es ist der überwiegende Teil der alten Bausubstanz bereits saniert oder zumindest konserviert. Als wir in die Stadt fahren, sehen wir sofort den Unterschied zu Insterburg. Hier sieht es tatsächlich renoviert und aufgeräumt aus. Unsere beiden Ziele hier, die Salzburger Kirche und die berühmte Elchstatue nehme ich zwar mit, jedoch ist mein Fokus schon jetzt auf unsere Rückkehr nach Insterburg gerichtet.

Gegen 14.00 Uhr treffen wir dann wieder beim Hotel ein. Einige von uns verabschieden sich, um mit dem Taxi in ihre Heimatorte in der Umgebung zu fahren, ich jedoch mache mich direkt auf die Socken, um Insterburg zu Fuß zu erkunden. Ich habe eine zweisprachige Karte mit den Straßenbezeichnungen von 1932 und heute. Dort habe ich auch schon alle meine Ziele entdeckt: Die Spritzenstraße, die Mühlenstraße, die Pregelstraße (liebe Rechtschreibkorrektur, ich meine die nach dem Fluss benannte Straße und nicht „Prügelstrafe“ *grmpf*) und ganz wichtig, die Wassergasse. In all diesen Straße haben meine Vorfahren aus der 2. bis 4. Generation, also meine Groß- bis Ururgroßeltern gelebt.

Mein erster Weg führt mich die Hindenburgstraße (heute Leninstraße) entlang zum alte Markt. Ich habe schon gehört, dass er als einziges Gebiet in Insterburg schwer von den Bomben des 2. Weltkriegs getroffen wurde. Der Platz sieht zwar nett aus, hat jedoch nichts mehr mit dem alten Markt von vor dem Krieg gemeinsam. Früher stand dort auch die Lutherkirche, in der, wenn ich mich recht entsinne, meine Großmutter getauft wurde. Leider hat die Kirche die englischen Bomben nicht überlebt und ihre Reste wurden in den 1970er Jahren gesprengt. Es stehen nur noch drei Torbögen, durch die man direkt die bekannte Bogenbrücke über die Angerapp erreicht. Ich sehe mich dort kurz um, jedoch zieht es mich weiter zur Pregelstraße, die an der Lutherkirche in den alten Markt mündet.

Die Straße sieht schon auf den ersten Blick seltsam unbewohnt aus und als ich ihr ein wenig folge, merke ich schnell, dass auch hier kein Stein auf dem anderen geblieben ist. Es gibt zwar gelegentlich ein Gebäude, jedoch liegen die Grundstücke links und rechts der Straße meistens brach. Keine Chance, die richtige Hausnummer zu finden oder auch nur eine Idee davon zu bekommen, wo sie gewesen sein könnte. In der Mühlenstraße, die parallel zur Pregelstraße verläuft, bietet sich mir das gleiche Bild. Nichts zu sehen, nichts zu holen. Und auch in der Spritzenstraße finde ich nur die Rückseite eines Supermarktes und viel Brache. Bis hierhin ist das alles eher enttäuschend. Zwar kann ich mir ausmalen, wie meine Vorfahren auf diesen Straßen entlang gegangen sind, aber eigentlich hatte ich mir etwas Handfesteres erhofft.

Ich bemerke, dass ich es bisher vermieden habe, die Wassergasse 7 aufzusuchen. Dies ist die Adresse, die mich am meisten interessiert und gleichzeitig scheue ich mich etwas, dorthin zu gehen. Meine Stimmung wird nicht gerade besser, als ich bemerke, dass die Wassergasse in gelb im Plan eingezeichnet ist. Das bedeutet, dass die Straße heute nicht mehr existiert. Ich gehe dennoch hin, vielleicht gibt es ja Reste in irgendeiner Form.

Ich verlasse die Spritzenstraße, überquere die Königsberger Straße und folge der Obermühlenstraße. Die erste Querstraße, die Lindenstraße, finde ich sofort. Danach käme theoretisch die Wassergasse und wiederum danach die Reformierte Kirchenstraße. Der Abstand zwischen der Lindenstraße und der nächsten sichtbaren „Querstraße“ erscheint mir jedoch im Vergleich zum Plan verdächtig kurz. Deshalb sehe ich mir die Sache genauer an. Das, was wie eine Querstraße aussah, ist keine – dafür ist es aber das, was früher einmal die Wassergasse war. Und an einem offensichtlich aus der Vorkriegszeit erhaltenen Haus prangt deutlich sichtbar die Hausnummer 3. Volltreffer! Naja, zumindest fast, denn das Haus mit der Nummer 3 ist so ziemlich das einzige in diesem Abschnitt der ehemaligen Wassergasse und von der Nummer 5 und 7 ist nichts mehr zu sehen. Stattdessen stehen dort jetzt Garagen aus billigen Steinen und Wellblech, die an die Slums südamerikanischer Großstädte erinnern. Aber zumindest kann ich mit großer Sicherheit sagen, wo das Haus einmal stand. Und das reicht mir.

Ich setze mich kurz in den Schatten und lasse meine Gedanken schweifen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich meine Großmutter und ihre Schwestern als junge Mädchen hier spielen. Immerhin hatten sie zumindest einen Teil ihrer Jugend in dieser Gasse ein intaktes Zuhause, bevor der Krieg begann, irgendwann auch Ostpreußen einholte und sie schließlich im Januar 1945 flüchten mussten.

Der wichtigste Grund meiner Reise ist es, den Kreis zu schließen und das, was da 1945 seinen Anfang nahm so energetisch „kurzzuschließen“, dass sich die Energien von Schock und Trauma entladen und die alten Wunden in allen Generationen endlich heilen können. Zu diesem Zweck habe ich etwas Erde und Blumensamen von meinem Grundstück zuhause mitgebracht. Die Samen und einen Teil der Erde lasse ich in der Wassergasse. Rund um die Wellblechgaragen wuchern alle möglichen Pflanzen – dort werden die Samen im nächsten Frühjahr aufgehen und blühen.
Den Rest der Erde nehme ich wieder mit zum Ort der ehemaligen Lutherkirche. Das Ufer der Angerapp dort hat mir gut gefallen und ich habe vor, dort mit einem kleinen Ritual den Kreis tatsächlich zu schließen. Das Universum meint es gut mit mir, denn ich bin dort auf einer Parkbank quasi alleine, führe mein Ritual durch und übergebe den Rest der Aschaffenburger Erde dem Ufer der Angerapp.

Mein Plan sieht vor, auch etwas von Insterburg mit nach Hause zu nehmen und als erstes springt mir ein Bruchstück eines Backsteines ins Auge. Die alten Häuser hier in Ostpreußen sind oft traditionell aus rotem Backstein mit roten Dächern gebaut – auch so etwas, was mir auf tiefster Ebene bekannt vorkommt. Also nehme ich das kleine Stück Backstein mit. Ein wenig später „drängt“ sich mir noch ein weiterer, natürlicher Stein auf, der unbedingt auch mit nach Aschaffenburg will. Ich erfülle ihm seinen Wunsch. Schließlich finde ich auch noch einige Samen, die ich auch noch mitnehme. Sie werden zuhause einen hübschen Topf erhalten und hoffentlich austreiben.

Puuh … der Hauptteil meiner Aufgabe hier ist erledigt. Um ehrlich zu sein, weiß ich gerade gar nicht, wie ich mich fühlen soll. Erleichtert, aufgewühlt, traurig, froh … Chaos. Ich laufe noch ein wenig durch die Stadt und fotografiere die alten Häuser. Vielleicht werde ich die Bilder meiner Großmutter zeigen.

Es fühlt sich so an, als ob ich noch einige Zeit brauchen werde, um mich selbst wieder zu sortieren. Und die positiven Veränderungen, die meine Reise hoffentlich möglich macht, kommen ohnehin in ihrer eigenen Zeit.

Der Insterburger Wasserturm von der Belowstraße aus gesehen
Der Insterburger Wasserturm von der Belowstraße aus gesehen

Nachdem ich noch meine Wasservorräte im Supermarkt aufgefüllt habe, komme ich ausgelaugt im Hotel an. Fertig für heute. Nachher noch das Abendessen, während dessen ich wieder im ostpreußischen Dialekt baden werde, den eine ganze Reihe von Mitreisenden sprechen, und der mich vor allem an meine beiden Großtanten, die Schwestern meiner Großmutter, erinnert. Interessanterweise ist der Dialekt bei meiner Großmutter selbst nicht so ausgeprägt. Aber über den Grund dafür werde ich wohl ein anderes Mal sinnieren müssen – oder vielleicht wird es mir auch gar nicht gelingen. Ist letztlich auch nicht so wichtig …

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