Anleitung zum Glücklichsein

Den nachfolgenden Post habe ich als Beitrag für die “Zu guter Letzt …” Kolumne in meinem Essenzenladen Blog geschrieben. Er ist so universell, dass ich ihn auch den Lesern meines privaten Blogs nicht vorenthalten möchte 🙂

Für viele Menschen ist es eine große Herausforderung, die Dinge, zu tun, die ihr Herz zum Singen bringen, insbesondere, wenn das bedeuten würde, wesentliche Dinge in ihrem Leben zu verändern, wie zum Beispiel den Job, die Beziehung oder die Wohnung. Und wenn wir ganz ehrlich sind, ist das absolut nachvollziehbar – denn da ist diese Aufgabe, die uns unser Herz stellt, und sie sieht so unglaublich groß aus, dass unser erster Impuls ist, dass wir das auf gar keinen Fall schaffen können. Aber das ist Quatsch.

An dieser Stelle eine kleine Vorwarnung: Der Text, den Sie gerade lesen ist deutlich länger als die üblichen “Zu guter Letzt …”. Ich glaube aber, dass es sich lohnt, dranzubleiben 😉

Ich selbst habe in meinem Leben insbesondere in beruflicher Hinsicht eine ziemlich große Zahl an Veränderungen durchlaufen, die mich heute dahin gebracht haben, dass ich mit dem Essenzenladen eine Arbeit mache, die mich erfüllt, mir große Freude bringt und mir und meiner Familie obendrein auch noch einen Lebensstandard ermöglicht, mit dem ich zu 100 % zufrieden bin.

Kleiner Exkurs: Ich habe bewusst geschrieben, dass ich mit unserem Lebensstandard zufrieden bin. Nach klassischen Maßstäben sind wir in finanzieller Hinsicht sicher nicht das, was man “reich” nennt, jedoch können wir uns alles, was für uns wichtig ist leisten und unser eigentlicher Reichtum besteht vor allem in der Lebensqualität, die wir dadurch haben, dass wir uns unsere Zeit frei einteilen können, von zuhause aus arbeiten, Zeit für unsere Kinder haben usw.

Der Weg, der mich dahin gebracht hat, wo ich heute stehe, war von vielen Kurven und Wendungen geprägt. In den letzten 20 Jahren habe ich in drei vollkommen unterschiedlichen Bereichen gearbeitet, und jedes Mal habe ich wieder bei Null angefangen und durfte über die Zeit viel lernen. Die Übergänge zwischen den Bereichen waren jedoch jedes Mal allmählich und fließend, wofür ich sehr dankbar bin.

Während meiner ersten zwei “beruflichen Leben” habe ich die Richtungen, in die ich mich bewegt habe, eher unbewusst gesteuert. Bei meinem Übergang in Richtung Essenzen und Kinesiologie habe ich jedoch bewusste Entscheidungen getroffen, Schritte gemacht und die Dinge getan, die notwendig waren, um mein Ziel zu erreichen. Ich möchte heute versuchen, Ihnen anhand einer kleinen “Anleitung” am Beispiel Beruf aus meiner Erfahrung zu beschreiben, wie man es hinbekommen kann, auch die wesentlichen Dinge in seinem Leben zu verändern, ohne dass alles im Chaos versinkt und man vor der Größe der Aufgabe resigniert.

1. Folgen Sie Ihrem Herzen

Haben Sie das Gefühl, dass Ihr Leben zwar “schon ok” ist, aber Sie dennoch nicht wirklich zufrieden sind? Fällt es Ihnen oft schwer, den Tag zu beginnen und sich darauf zu freuen? Würden Sie häufig lieber etwas anderes tun, anstatt zur Arbeit zu gehen? Dann wird es Zeit, dass Sie etwas ändern, denn wir sind nicht auf der Erde um zu leiden. Im Gegenteil: Wir sind hier, um Freude am Leben zu haben.

Kennen Sie das Gefühl, dass Sie etwas sehen oder lesen und sofort Feuer und Flamme sind. Der Gedanke: “Das will ich auch machen” kommt wie von selbst und lässt sie nicht mehr los? Oder vielleicht ist es auch nur ein sanftes Ziehen in eine bestimmte Richtung. Wenn Sie etwas tun und sich dabei einfach glücklich fühlen und die alltäglichen Sorgen und Ängste zumindest für kurze Zeit von Ihnen abfallen. Das sind Hinweise ihrer Intuition, die ihnen den Weg weisen. Stellen Sie sich vor, Sie könnten den Großteil Ihrer Arbeitszeit mit genau diesen Dingen verbringen. Wäre das nicht phantastisch? Wie würde ihr Leben und ihre Lebensqualität aussehen, wenn Sie genau das tun würden? Wären Sie dann viel glücklicher und würden sich auf jeden neuen Tag freuen, anstatt sich aus dem Bett zu quälen?

Wenn es etwas gibt, wofür Sie diese Fragen aus vollem Herzen bejahen können, dann haben Sie den ersten Schritt getan: Sie haben sich Ihr nächstes Ziel ausgesucht. Herzlichen Glückwunsch!

Unterstützende Essenz: Mountain Lion – damit wir auf unserem eigenen Weg bleiben und uns von nichts und niemand davon ablenken lassen.

2. Auch der längste Weg besteht aus vielen einzelnen Schritten und beginnt mit dem ersten

Sie wissen also nun, wohin Sie wollen. Aber vielleicht haben sie keine Ahnung, wie sie dahin kommen. Oder das, was Ihnen Freude bereitet ist (wie so oft) kein klassischer Beruf und Sie müssen erst noch herausfinden, wie Sie es anstellen müssen, von dem, was Sie da vorhaben, leben zu können. Wenn Sie bisher dem klassischen Schema Schule – Ausbildung – Anstellung gefolgt sind, kann das wie eine unlösbare Aufgabe aussehen … sie ist es aber nicht. Es hat ja keiner gesagt, dass Sie die Lösung für alle offenen Fragen sofort parat haben müssen.

Auch der längste Weg besteht aus einer Serie von vielen einzelnen Schritten, und er beginnt immer mit dem ersten. Alles, was Sie zu tun haben ist also, sich zu überlegen, wie der erste Schritt aussieht. Brauchen Sie neue Kenntnisse oder Fähigkeiten, um das zu tun, was Ihr Herz zum Singen bringt? Wo können Sie einen Kurs machen, um damit zu beginnen zu lernen? Können Sie den Kurs so machen, dass er sich mit ihrem bisherigen Beruf und Ihrem Geldbeutel vereinbaren lässt?

An dieser Stelle ist es empfehlenswert, sich nicht gleich für die 3-jährige Ausbildung in XYZ für tausende von Euro anzumelden, sondern tatsächlich erst einmal nach einem Wochenendkurs etc. Ausschau zu halten. Schließlich ist das alles neu und sie wissen ja noch gar nicht, ob das, was Sie angepeilt haben, tatsächlich exakt das ist, was Sie wollen. Und keiner hat gesagt, dass der erste Schritt gleich ein riesig großer sein muss. Im Gegenteil: Wenn Sie es erst einmal vorsichtig angehen, können Sie die Richtung, in die Sie gehen, viel besser nachjustieren, als wenn Sie gleich in vollem Galopp auf ein einmal festgesetztes Ziel zurasen.

Klingt das nicht machbar? Anstatt zu sagen: “Heute ändere ich mein berufliches Leben komplett”, heißt es: “Ich mache erstmal einen kleinen Kurs für einen Preis, den ich mir leisten kann”.

Unterstützende Essenz: Beaver – um immer genau den Schritt zu tun, der notwendig ist, um uns unserem Ziel näher zu bringen und nicht an der Größe der Aufgabe zu verzweifeln.

3. Zweifeln Sie nicht an sich

Wenn es etwas gibt, was Ihr Herz zum Singen bringt, dann ist das ein klares Signal von Ihrer Seele, dass dieses “Etwas” Teil Ihres Seelenplans ist. Und wenn das so ist, dann besitzen Sie alle Voraussetzungen, um das zu tun. Wäre ja auch irgendwie blöd, wenn wir auf die Erde kommen würden und uns eine bestimmte Aufgabe ausgesucht, jedoch dummerweise das dazu notwendige Werkzeug vergessen hätten. Nein, Sie können beruhigt davon ausgehen, dass Sie alles haben, was es braucht, um Ihrem Herzen zu folgen.

Wenn Sie das Gefühl haben, einer Aufgabe nicht gewachsen zu sein, dann entstammt dieses Gefühl in erster Linie ihren selbst auferlegten Begrenzungen. Üblicherweise kommen die daher, dass uns in der Vergangenheit von anderen, oft unseren Eltern oder Lehrern, gesagt wurde, was wir schaffen können und was nicht, aber vielleicht haben wir auch selbst negative Erfahrungen gemacht und daraus geschlussfolgert, dass wir manche Dinge einfach nicht schaffen können.

Zweifellos ist es unwahrscheinlich, dass Sie demnächst anfangen werden aus eigener Kraft zu fliegen, aber so ziemlich alles andere ist grundsätzlich möglich. Wenn Sie jedoch selbst nicht daran glauben, dann berauben Sie sich Ihrer Energie und Schöpferkraft. Noch einmal: Sie haben alles, was nötig ist, um Ihrem Herzen zu folgen. Sie brauchen niemandes Erlaubnis und sind von niemandem abhängig. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Das heißt selbstverständlich nicht, dass Sie alles alleine und ohne Hilfe tun können oder müssen. Im Gegenteil. Wenn man den Weg seines Herzens geht, kommen Hilfe und Unterstützung reichlich von selbst und oft aus unerwarteten Richtungen. Wichtig ist jedoch, dass Sie ohne Wenn und Aber daran glauben, dass Sie den Weg gehen und es schaffen können.

Unterstützende Essenz: Bumblebee – um die selbst auferlegten Grenzen zu durchbrechen und das bisher für unmöglich Gehaltene mit Leichtigkeit zu erreichen.

4. Versuchen Sie nicht, alles im Voraus zu planen

“I sit and talk to God, and he just laughs at my plans” (Robbie Williams)

Manchmal ist es hilfreich, sich sein Ziel möglichst plastisch, in 3D und Farbe vorzustellen, das hilft bei der Manifestation. Manchmal ist es aber auch schlicht unmöglich, das zu tun, weil man einfach noch keine Ahnung hat, wohin einen der Weg führen wird. Egal was bei Ihnen zutrifft: Verabschieden Sie sich von der Vorstellung, alles planen zu können. Ziele wie “In einem Jahr bin ich hier, in fünf Jahren bin ich dort” sind zwar nett, jedoch belehrt uns die Realität oft eines Besseren. Es ist auch gar nicht notwendig, die nächsten 25 Schritte im Voraus zu planen, Oft ist es sogar kontraproduktiv, denn es schränkt das Spektrum all dessen, was möglich ist, auf das ein, von dem Sie glauben, dass es möglich sei. Sie können getrost davon ausgehen, dass die Perspektive eines einzelnen Menschen (und damit auch Ihre) ziemlich begrenzt ist. Daher wäre es doch schade, wenn Sie sich künstlich limitieren.

Meiner Erfahrung nach ist es vor allem wichtig, eine klare Vorstellung davon zu haben, in welche Richtung man gehen will. Dann kann man jeden Schritt, den man unternimmt, darauf prüfen, ob er einen in die gewünschte Richtung bringt, oder eher davon weg.

Es gibt ein schönes Bild: Stellen Sie sich vor, sie wollen in absoluter Dunkelheit mit dem Auto nach Rom fahren. Es gibt keine Straßenbeleuchtung, jedoch haben Sie zwei gut funktionierende Scheinwerfer. Sie wissen auch, welche Straßen sie nehmen müssen, jedoch können Sie aufgrund der Dunkelheit nicht mehr als die 20 m weit sehen, die Ihre Scheinwerfer erleuchten. Frage: Werden Sie den Weg nach Rom finden, obwohl Sie nicht den gesamten Weg überblicken können? Ich glaube schon 🙂 Alles, was es braucht, ist das Vertrauen, dass die Scheinwerfer dann, wenn Sie die 20 m zurückgelegt haben, das nächste Teilstück beleuchten werden und nach einer ganzen Reihe von kleinen Etappen, werden Sie schließlich in Rom ankommen.

Unterstützende Essenz: Seal – um das Gleichgewicht zwischen aktivem Handeln und sich treiben Lassen zu finden.

5. Hindernisse und Widerstände

Auch wenn wir dem Weg unseres Herzens folgen gibt es Hindernisse, Widerstände und Rückschläge. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass diese nicht dazu da sind, um immer und immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. Stattdessen sind Hindernisse auf unserem Weg Hinweise, die unsere Aufmerksamkeit erfordern. Stellen Sie sich Schwierigkeiten wie Leitplanken auf der Straße unseres Seelenwegs vor. Wenn die Straße einen Bogen nach links beschreibt, und wir nicht rechtzeitig einlenken, dann berühren wir die Leitplanke. Wir haben nun zwei Möglichkeiten: Entweder wir bestehen darauf, dass wir partout geradeaus wollen, mit dem Ergebnis, dass wir immer wieder aufs Neue Bekanntschaft mit der Leitplanke machen und sie vielleicht irgendwann durchbrechen, oder wir steuern nach links, dann sind wir wieder auf der Mitte der Straße und können ohne Hindernisse vorankommen.

Wenn auf dem Weg unseres Herzens Schwierigkeiten und Herausforderungen auftauchen, heißt das nicht unbedingt, dass wir auf dem falschen Weg sind oder dass unser Ziel das falsche ist. Vielleicht gibt es aber Teilaspekte, die wir überdenken sollten, oder unser Ziel bedarf kleinerer Anpassungen.

Um wieder zu meinem Bild mit der Straße zurückzukommen: Wenn wir uns jedoch nicht mit einer Leitplanke, sondern einer massiven Straßensperre konfrontiert sehen, dann kann es sein, dass wir unsere Intuition falsch verstanden haben. Dann ist es sinnvoll, noch einmal alles auf den Prüfstand zu stellen. Wenn Sie jedoch ehrlich zu sich selbst sind und wohl zu unterscheiden vermögen, was Ihr Herz tatsächlich zum Singen bringt und was Ihnen vom Verstand mit all seinen Prägungen und Glaubenssätzen eingegeben wird, dann ist es eher unwahrscheinlich, dass Sie auf dem Weg Ihres Herzens auf solch eine Straßensperre treffen.

Unterstützende Essenz: Jellyfish – um uns voller Vertrauen dem Fluss des Lebens hinzugeben und nachgiebig aber kraftvoll wie ein Fluss um Hindernisse herumzufließen.

6. Es gibt keine Endstation

Wenn ich mein heutiges Leben betrachte, dann kann ich aus vollem Herzen sagen, dass ich damit glücklich bin. Auch ich habe gute und schlechte Tage, auch ich bin beruflich manchmal mit Dingen konfrontiert, die mich nerven oder auf die ich keine Lust habe. Wenn ich mir jedoch überlege, welche grundsätzlichen Dinge ich in meiner Arbeit ändern wollte, dann komme ich regelmäßg zu dem Ergebnis, dass es nichts Derartiges gibt. Gleichzeitig bin ich vollkommen in Frieden mit der Idee, dass sich das auch wieder ändern kann. Dann wäre der Zeitpunkt gekommen, um von vorne zu beginnen und die Schritte zu tun, die es dann braucht, um mein Leben so zu ändern, dass ich wieder glücklich bin.

Wenn wir unser Ziel erreicht haben, dann heißt das nicht, dass wir auf alle Ewigkeit dort stehen bleiben. Das würde dem elementaren Gesetz widersprechen, dass alles fließt: panta rhei. Das einzig Konstante im Leben ist die Veränderung – und das gilt auf allen Ebenen. Dinge, die noch vor wenigen Jahren unser Herz zum Singen gebracht haben, können heute schon wieder nur “ok” oder sogar langweilig sein und das ist in Ordnung so. Aber vielleicht gibt es etwas anderes, das unser Herz aufs Neue zum Singen bringt. Ganz sicher sogar. Und wenn wir offen dafür sind, erkennen wir es, wenn es uns über den Weg läuft.

Unterstützende Essenz: Communion with God – um in Einheit mit dem Göttlichen zu leben und gleichzeitig offen und gewahr zu sein.

Herzlichen Glückwunsch! Sie sind bis zum Ende dieses etwas länger geratenen “Zu guter Letzt …” drangeblieben. Das bedeutet, unter anderem auch, dass Sie ein gesundes Maß an Ausdauer besitzen, was bei der Erreichung der eigenen Ziele nur von Vorteil ist. Ich hoffe, ich konnte Ihnen die eine oder andere Inspiration vermitteln und wünsche Ihnen viel Freude und Erfolg auf dem nächsten Teilstück des Weges Ihrer Seele.

Liebe Grüße aus Aschaffenburg
Carsten Sann
Der Essenzenladen

Albert Einstein zum Thema Intuition

Die Intuition ist ein göttliches Geschenk, der denkende Verstand ein treuer Diener. Es ist paradox, daß wir heutzutage angefangen haben, den Diener zu verehren und die göttliche Gabe zu entweihen.

Albert Einstein

Und der Onkel Einstein muss gewusst haben wovon er sprach. Einen Mangel an Verstand kann man ihm nun wirklich nicht nachsagen … 😉

Gedanken über Gutmenschen und besorgte Bürger

Top Thema momentan: Die Welle von Flüchtlingen, die nach Europa flutet. Doch nicht das Schicksal der Menschen, die ihre Heimat verlassen, noch die Suche nach einer Lösung für das Problem an dessen Quelle werden heiß diskutiert. Stattdessen schlagen sich die (von der jeweils anderen Seite so genannten) “Gutmenschen” und “Nazi-Deppen” leider nicht immer nur verbal die Schädel ein.

Um eines vorab klar zu sagen: Meine Position in dieser Sache ist die, dass es selbstverständlich ist, Menschen, die auf der Flucht sind, Asyl zu gewähren – ohne wenn und aber. Beim Beobachten der aktuellen medialen Schlacht zu dem Thema, komme ich jedoch nicht umhin, mir einige Gedanken zu machen …

  1. Wer Menschen zu Schaden bringt, Brände legt oder anderweitig anderer Leute Eigentum beschädigt, muss dafür bestraft werden.
  2. Wer dem blinden Hass der “besorgten Bürger” mit ebenso blindem Hass entgegentritt, sollte es eigentlich besser wissen.

Es ist gerade groß in Mode, dass alle, die halbwegs der Öffentlichkeit bekannt sind, sich medienwirksam zu dem Thema äußern. Tenor dieser Äußerungen ist, dass diejenigen, die sich gegen die Flüchtlinge wenden, “braunes Pack” sind und ohnehin nur dumme Stücke Scheiße. Diese Texte und Videos werden in den sozialen Netzwerken tausendfach geteilt und unterstützt.

Ich stimme zu, dass die Gewalt, die von diesen Menschen ausgeht, von der Gesellschaft zu verurteilen und von der Judikative zu bestrafen ist. Die Menschen aber im medialen Dauerfeuer auf das übelste zu beschimpfen und zu erniedrigen provoziert nur eines: Mehr Widerstand. Es spaltet die Gesellschaft in zwei Gruppen: “wir” und “die anderen” – und zwar wechselseitig.

Ich bilde mir nicht ein, zu wissen, was der Königsweg in diesem Dilemma ist. Ich bin mir auch nicht sicher, inwiefern ein Dialog mit den “besorgten Bürgern” von Erfolg gekrönt wäre. Wovon ich aber überzeugt bin ist, dass das momentan stattfindende öffentliche Bashing das Problem nur vergrößert.

Ein erster Schritt wäre wahrscheinlich, den Gewalttätern die öffentliche Bühne zu entziehen, indem die Berichterstattung auf ein Minimum reduziert wird, und gleichzeitig für eine schnelle und angemessene Bestrafung zu sorgen. Und wenn man gleichzeitig den Fokus der Berichte auf positive Nachrichten rund um die Asylbewerber legt (die gibt es ja auch genug), dann kann man die meinungsbildende Macht der Medien vielleicht endlich mal für einen guten Zweck einsetzen …

Wahrheit ist relativ

Es ist nicht abzustreiten, dass die Wissenschaft und die wissenschaftliche Methodik allgemein der Menschheit viele Fortschritte beschert haben. Was mich jedoch schon lange stört ist der Anspruch auf die absolute Wahrheit, den die etablierte Wissenschaft proklamiert. Das mag innerhalb eines kartesianischen Weltbildes vielleicht noch ansatzweise nachvollziehbar sein, jedoch sollte schon lange klar sein, dass die Philosophie Rene Descartes, die strikte Trennung zwischen Körper und Geist, Materie und der Welt des Feinstofflichen nicht aufrechtzuerhalten ist.

Ich vestehe zwar, dass alles, was nicht messbar ist, den linken Gehirnhälften der Forscher Angst macht, der Wissenschaft täte dennoch ein wenig mehr Bescheidenheit gut und insbesondere sollte sie sich (ebenso wie der Papst) vom Anspruch auf die absolute Wahrheit lösen. Dieser Artikel auf Spiegel Online ist ein fast ironisches Beispiel, warum …

http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/psychologie-ergebnisse-hunderter-studien-nicht-wiederholbar-a-1050202.html

Über die Verhinderung terroristischer Anschläge

In Frankreich wurde ein mutmaßlich terroristischer Anschlag verhindert. Nur mal so am Rande: Es war weder die Vorratsdatenspeicherung, noch Kameras noch irgendwelche andere “Segen” des Überwachungsstaates, die dafür gesorgt haben, dass nichts (Schlimmeres) passiert ist. Es war ein glücklicher Zufall.

Ich lass’ das jetzt mal so für sich alleine stehen.

Ostreise 10 – Rückkehr nach Deutschland

Heute morgen – same procedure as always: Aufstehen, Frühstück, Abfahrt um 8.00 Uhr Richtung Grenze. Letzte Blicke auf Königsberg. Abschied von Johanna, unserer aktuellen Reiseleiterin (Tamara gestern hat nur die Stadtführung gemacht). Die Abfertigung durch die russischen Grenzer geht halbwegs flott: Alle raus aus dem Bus und in die Station und dann einzeln vortreten. Bei der Passkontrolle wird jedoch nach wie vor auf psychologische Tricks zur Einschüchterung gesetzt. Dunkle Scheiben, ein kleiner Schlitze um den Pass durchzureichen, mehrere Uniformierte pro Kontrollstelle und ernste Gesichter. Wir kommen jedoch ohne Probleme aus Russland raus. Danach geht weiter zur polnischen Grenzkontrolle – die Einreise in die EU.

Blick über den Oberteich in Königsberg
Blick über den Oberteich in Königsberg

Die Polen sind halbwegs entspannt. Pässe einsammeln und alle Schränke und Klappen des Busses auf zur Inspektion. Dann fällt ihnen ein, dass sie noch ein schickes Röntgengerät in der Grenzstation stehen haben, also müssen noch vier Koffer raus zum Durchleuchten. Nachdem darin nichts Verdächtiges gefunden wurde, werden sie wieder eingeladen und wir dürfen fahren. Nach insgesamt einer Stunde und 20 Minuten sind wir durch die Grenze durch – laut Mario, unserem Fahrer, eine rekordverdächtige Zeit.

Ich habe nun Ruhe, über die vergangenen Tage nachzudenken. War es richtig hierher zu kommen? Ja, ohne Einschränkungen. Was hat es mir gebracht? Mehr Verständnis und eine viel tiefere Verbindung zu immerhin 25% meiner Wurzeln. In der Gesellschaft der Mitreisenden habe ich begonnen, mich mit Ostpreußen zu identifizieren. Das, was früher ein reines mentales Wissen war, wurde nun durch emotionales und seelisches Wissen vervollständigt. Das ist in der Tat genau das, was passiert ist: Die Lücke, die mein ganzes Leben lang in Bezug auf den Teil von mir, der aus Ostpreußen stammt, vorhanden war, ist nun gefüllt. Ich bin mir noch nicht sicher, ob sie schon genügend gefüllt ist – vielleicht muss ich nochmal hinfahren – aber auf jeden Fall ist das bisher vorhandene teilweise Vakuum nun nicht mehr da. An seiner Stelle steht nun ein kleiner Baum, der gehegt und gepflegt werden will, damit seine Wurzeln wachsen und mir Stabilität geben.

Ostpreußen ist ein wunderschönes Land mit einem großen Herzen, das erst noch dabei ist, sich von den Wunden zu erholen, die ihm vor 70 Jahren zugefügt wurden. Ich wünsche mir, dass die Menschen, die heute dort leben, gut für das Land sorgen und es wieder zum Leben erwecken und blühen lassen. Das Potenzial dazu ist auf jeden Fall da. Und es gibt auch Anlass zur Hoffnung. Auch wenn noch viel zu tun ist, hat man den Eindruck, dass man zumindest schon einmal damit begonnen hat.

Auf einer etwas materielleren Ebene war die Organisation der Reise durchdacht und professionell. Natürlich gab es auch diejenigen in der Gruppe, die sich über das ein oder andere aufgeregt haben, unzufrieden waren oder denen sonst irgendetwas nicht gepasst hat. Ich jedoch bin einzig und alleine mit dem Ziel gekommen, nach Insterburg zu reisen. Ich hatte jeden Tag genießbares bis sehr gutes Essen, ein Zimmer mit Bad und Toilette und ein Bett – mehr habe ich nicht gebraucht. Die Hotels in Thorn und Königsberg waren sehr gut, das Hotel in Insterburg war unter dem Strich zwar keine vier Sterne wert, aber dennoch absolut in Ordnung. Die Reiseleiter waren kompetent und haben sich jederzeit um alles gekümmert.

Ich beglückwünsche mich zu der Entscheidung einen mobilen Hotspot mitgenommen und mit einer russischen Beeline Simkarte versorgt zu haben. Für umgerechnet etwas mehr als sieben Euro hatte ich während der ganzen Zeit mobiles Internet in akzeptabler bis sehr guter Geschwindigkeit, sogar auf der Kurischen Nehrung. Unter anderem habe ich es während meines Spazierganges in Königsberg dazu genutzt, um mir per Navigationssystem den Weg zurück zum Hotel zu weisen. Das gab mir den nötigen Rückhalt, um mich alleine durch die Stadt zu begeben. In den Hotels in Thorn und Königsberg gab es zwar ein gutes und kostenloses WLAN, das in Insterburg hat jedoch nicht wirklich funktioniert. Die mobile Netzabdeckung war insgesamt sehr gut und absolut mit Deutschland vergleichbar.

Die Orientierung in Insterburg und Königsberg ging mit jedem Tag immer besser. Wenn man sich ein wenig mit den kyrillischen Schriftzeichen beschäftigt, dann kann man nach dem optischen Ein-Finger-Suchsystem halbwegs leicht Straßennamen und Ladenschilder entziffern – die Wörter und Wortstämme sind oft mit deutschen, englischen oder französischen Ausdrücken verwandt. Аптека (Apteka) ist beispielsweise Apotheke, Ресторан (Restoran) und Кафе (Kafe) erklären sich von selbst. Quizfrage: Was bedeutet dieses Schild 🙂

Straßenschild in KönigsbergIch würde jederzeit wieder in das Königsberger Gebiet fahren – vielleicht sogar auf eigene Faust ohne Gruppe. Es gibt viele, die ein bisschen Deutsch sprechen, besonders die Taxifahrer, oder zur Not auch Englisch. Die Hotels kann man auch online buchen und es gibt sogar einen Direktflug von Berlin nach Königsberg. Mit dem Auto ist es zwar eine weite Strecke, aber immer noch machbar. Wenn ich meine Idee umsetze, und mit Familie und Fahrrad komme, werden wir wohl den Wagen nehmen müssen.

Ich bin froh, wieder nach Hause zu fahren. Es waren 10 Tage, vollgepackt mit Eindrücken und Erfahrungen. Vergessen werde ich diese Reise sicherlich niemals. Nun sind wir in Polen unterwegs und werden irgendwann zwischen acht und neun Uhr in Oranienburg aussteigen, noch eine Nacht im Hotel schlafen und dann mit dem Flieger von Berlin nach Hause.

Ostreise 9 – Königsberg

Heute morgen geht es etwas gemütlicher zu als bisher. Wir haben reichlich Zeit zum Frühstücken, bevor es um 9 Uhr auf eine Rundfahrt durch Königsberg geht. Tamara, unsere Reiseführerin erzählt uns einiges über die Stadt. Gleich zu Beginn kommen wir an der ehemaligen Schnapsbrennerei Petereit vorbei – das ist der Mädchenname meiner Großmutter. Sicher kein ganz seltener Name in Ostpreußen, aber ich muss trotzdem bei Gelegenheit forschen, ob es Verbindungen nach Insterburg gibt.

Der Pregel in KönigsbergVom alten Zentrum Königsbergs ist nach dem Krieg nicht viel übrig geblieben. Die englischen Bomber haben in nur zwei Angriffen einer Jahrhunderte alten Kulturstadt den Garaus gemacht. Heute hat Königsberg keine Altstadt, keine Fußgängerzone, kein Gesicht. Als ich das alles auf mich wirken lasse, kommt der Moment, wo es mir den Atem verschlägt und die Tränen in die Augen treibt. Was für eine sinnlose, mutwillige, verblendete Zerstörung. Generell ist das, was von allen Seiten im 2. Weltkrieg an Architektur, Kunst und Kultur ausgelöscht wurde – ganz zu Schweigen von den Millionen Menschenleben – so unendlich groß und war so unendlich wertvoll, dass ich das Gefühl habe, dass die Nazis und die Alliierten Europa ein ganzes Stück zurück in Richtung Steinzeit gebombt haben. Noch jetzt beim Schreiben schießen mir immer wieder die Tränen darüber in die Augen. Die Geschichte eines ganzen Kontinents wurde in nur sechs Jahren zu einem wichtigen Teil zerstört. Vorstellen, welche Kräfte dazu geführt haben, dass sich die Völker Europas immer wieder gegenseitig abgeschlachtet haben (und ab 1939 so richtig gründlich), kann ich mir nicht. Ja – die Kriege zwischen den Völkern wurden in der Regel von den Mächtigen angezettelt. Aber mitgemacht haben die kleinen Leute immer. Manche unter Zwang, aber viel zu viele mit Begeisterung. Die Definition von Selbstzerstörung.

Unsere Reiseleiterin Tamara erzählt auch, wie viel sie von den alten Königsbergern über die Geschichte ihrer Stadt gelernt hat, nachdem die ab den 1990er Jahren wieder zu Besuch kamen. Zuvor gab es nur die offizielle Version der Geschichte der Stadt: Die slawischen Pruzzen lebten hier, es gab eine zeitweilige Unterbrechung des Friedens durch den Deutschorden und die Deutschen und seit 1945 ist das Land wieder in russischer Hand und damit ist alles gut. Als Tamara über die Besucher aus dem Westen noch anfügt: „Die Ostpreussen haben Königsberg die Seele wiedergebracht“, bricht mir fast das Herz. Sie hat recht. Gottseidank kommt seit der Wende auch in Königsberg der deutsche Teil der Geschichte der Stadt Stück für Stück wieder ans Tageslicht. Erhaltene Gebäude werden restauriert, berühmte Söhne und Töchter der Stadt werden geehrt, auch wenn sie keine Russen waren.

Wir kommen beim Bernsteinmuseum an, das sich in einem noch aus den Zeiten der Stadtbefestigung erhaltenen und nach dem Krieg wieder aufgebauten Torhaus befindet. Die Geschichte dieses Schmucksteins aus fossilem Harz hier wiederzugeben, würde den Rahmen sprengen, wer mag kann aber hier nachlesen. 95% der weltweiten Vorräte an echtem Bernstein liegen in Ostpreußen, genauer in Palmnicken (Янтарный, Jantarny). Dort werden bis heute große Mengen an Bernstein aus der Erde geholt. Was man damit alles anfangen kann, sehen wir im Museum. Die Bandbreite reicht von wunderschön über kitschig bis fast ästhetisch kriminell. Aber über Geschmack lässt sich ja bekanntlich (nicht) streiten. Leider ist im Museum das Fotografieren nicht erlaubt, so dass ich keine Bilder machen kann.

Weiter geht es durch die Stadt mit einigen wenigen Stopps. Wir sehen unter anderem den Hansaplatz, den Hafen, das Marinemuseum von außen, das Schauspielhaus und fahren weiter bis zum Dom. Hier ist das Ende der Tour.

Der Königsberger Dom wurde im 2. Weltkrieg stark zerstört und stand jahrzehntelang als Ruine auf der Kneiphof-Insel mitten in der Stadt. Er entging der Sprengung während der Breschnew Ära einzig und alleine aus dem Grund, dass unter der Kirche das Grab des großen Philosophen Immanuel Kant lag und immer noch liegt. Erst nach der Wende wurde der Dom mit immens großem Aufwand und mithilfe von Spenden wiederaufgebaut und restauriert. Er beherbergt heute die größte Kirchenorgel in der gesamten Russischen Föderation. Da in der Kirche auch geteilte Orgel- und Sinfoniekonzerte stattfinden, haben die Sitzbänke eine Besonderheit: Die geneigte Rückenlehne lässt sich umklappen, so dass während des Konzerts alle Besucher kurz aufstehen, die Rückenlehne umklappen und sich auf die gegenüberliegende Bank setzen und damit in die andere Richtung schauen können. Tamara versichert uns, dass das für 2-3 Minuten ein Höllenlärm ist 😉

Um 14.00 Uhr wäre ein Konzert des Dom-Organisten auf eben dieser Orgel zu hören, ich entschließe mich aber, mir stattdessen lieber noch etwas von der Stadt anzusehen. Daher laufe ich vom Dom zurück zum Hotel – eine ordentliche Strecke, die man jedoch in einer knappen Stunde bewältigen kann. Ich komme durch Gegenden, in denen sozialistische Plattenbauten neben heruntergekommenen alten Gebäuden, und andere, in denen hübsch sanierte Häuser neben neomodernen Klötzen stehen – und umgekehrt. Es wird auch viel gebaut und saniert. Aber es ist wahr: Der Stadt fehlt das Zentrum und das Gesicht. Ich wünsche mir, dass sich das eines Tages wieder ändern wird, denn Königsberg kann eine wunderschöne Stadt sein. Die Wehmut, die mich angesichts dessen, was verloren gegangen ist, überkommen hat, ist indes eine andere, als die in Insterburg. Dort war ich persönlich betroffen. Hier in Königsberg ist der Schmerz eher allgemein, aber nichtsdestotrotz groß.

Als ich im Hotel ankomme ist erst einmal Ausruhen angesagt – es ist heiß und die letzten Tage waren insgesamt sehr anstrengend. Meine Ostreise nähert sich dem Ende. Nachher gibt es das letzte Abendessen und morgen fahren wir über Danzig und Stettin nach Hause. Ich werde mir im Bus die Zeit nehmen und die Reise noch einmal Revue passieren lassen. Für heute reicht es daher erst einmal.

Ostreise 8 – Rauschen und die Kurische Nehrung

Frühes Aufstehen, frühes Frühstück. Wir haben heute einiges vor: das Ostseebad Rauschen (Светлогорск, Swetlogorsk) und dann auf die Kurische Nehrung. Gestern waren wir am Haff, jedoch auf dem Festland – heute fahren wir auf die Nehrung hinaus. Als wir Insterburg verlassen bin ich doch ein bisschen wehmütig. Vielleicht muss ich doch noch einmal zurückkommen und die Region mit dem Fahrrad erkunden. Mal sehen … vielleicht wenn die Kinder ein wenig größer sind und mitkommen können.

Wir fahren wieder zurück in Richtung Königsberg, und dann weiter in Richtung Nordwesten bis Rauschen. Der Badeort hat etwa 10.000 Einwohner und liegt an der samländischen Ostseeküste. Als wir dort ankommen, sehe ich das typische Flair, das wohl jeder Badeort an der Nord- und Ostseeküste hat. Viele Buden, die vor allem Bernstein in allen Variationen anbieten, sowie Badekleidung, Essen und Trinken und was das Herz der Badegäste sonst noch begehrt. Da Rauschen im 2. Weltkrieg nicht zerstört wurde, ist viel von der alten Bausubstanz erhalten und sogar bis auf wenige Ausnahmen in gutem Zustand. Man merkt, dass die Stadt heute ein beliebtes Ausflugsziel der etwas betuchteren Bevölkerung von Königsberg ist und auch aus dem ganzen Rest der Russischen Föderation im Sommer Gäste kommen. Viele der Gebäude sind noch im Besitz des Militärs, da Rauschen nach dem Krieg vor allem der Erholung und Genesung von Soldaten und Offizieren diente. Der Strand hier ist nur bedingt zum Baden geeignet, da die Küste sehr felsig ist und der früher vorhandene Sandstrand bis auf wenige Reste inzwischen von der Ostsee abgetragen wurde. Dafür gibt es eine schöne Uferpromenade auf der sich noch dutzende von weiteren Verkaufsständen aneinanderreihen.

Bildschirmfoto 2015-08-14 um 18.42.31Gegen Mittag fahren wir weiter nach Osten bis auf die Kurische Nehrung. Sie ist 98 km lang und zwischen 300 m und 3,8 km breit. Auf der Nehrung liegen nur ganz wenige Dörfer und sie wird durch die Grenze in einen russischen und einen litauischen Teil getrennt. Die Geschichte der Nehrung ist von Sturmfluten und Sandkatastrophen gezeichnet, bei denen ganze Dörfer innerhalb sehr kurzer Zeit durch starke Winde vom Sand zugedeckt wurden – das letzte Mal in den 1980er Jahren.

Im Besucherzentrum gibt es ein Café, wo uns ein reichhaltiges Mittagessen aus Fisch in allen Variationen erwartet. Der Nachtisch besteht aus Plinsen (ein neues Wort für mich) mit roter Grütze. Ziemlich vollgefuttert werfen wir noch einen Blick auf das Wasser, bevor wir wieder in den Bus einsteigen, um weiter auf die Nehrung hinaus zu fahren – wie gesagt: Sie ist ziemlich lang und alleine der russische Anteil beträgt 46 km.

So eine Reise mit dem Bus ist eigentlich recht bequem. Man hat sein Gefährt inkl. Verpflegung und Toilette immer dabei und muss noch nicht einmal selbst fahren. Wenn die Gruppe, mit der man unterwegs ist, gut zusammenpasst (wie es die unsere weitestgehend tut – ein paar Ausreißer sind immer dabei), dann ist das eine feine Sache. Aber ich merke, dass es jetzt gegen Ende der Woche anstrengend wird. Ich bin müde und eigentlich bereit, wieder nach Hause zu fahren.

Die Nehrung wurde mittels ausgefeilter Methoden so weit befestigt, dass heute Mischwälder darauf wachsen. Bis auf wenige Ausnahmen gibt es keine Wanderdünen mehr. Zu einer dieser Ausnahmen, der Ephas Höhe, fahren wir nach dem Essen. Sie ist nach dem Mann benannt, der so viel für die Befestigung der Nehrung getan hat. Auf einem Holzsteg gehen wir einen guten Kilometer zu einer Aussichtsplattform, über die man schon einen guten Überblick über die Nehrung, die Ostsee und das Haff hat. Den besten Blick hat man aber auf der Plattform ganz oben auf der ca. 40 m hohen Düne, zu der wir dann auch noch laufen. Wunderschön.

Auf der anderen Seite kann man an einem breiten Sandstrand in der Ostsee baden. Wir machen uns also auf den Weg zurück, über den Parkplatz und zum anderen Ufer der Nehrung. Die Ostsee ist generell kälter als die Nordsee und viel kälter als das Mittelmeer. Wenn man an die 20 Grad Grenze herankommt, ist das schon etwas Besonderes. Für mich als bekennenden Warmduscher ist das definitiv nichts zum Baden, deshalb beschränke ich mich darauf, meine Füße ins Wasser zu halten. Das tut nach der ganzen Lauferei gut 🙂

Mir fällt zwischendrin auf, dass ich mittlerweile voll im „normalen Reisemodus“ bin. Die Emotionalität der vergangenen Tage ist im Wesentlichen vorbei, ein wenig Nostalgie kommt nur auf, als es im Bus um ostpreußische Wörter und Ausdrücke geht, von denen ich überraschenderweise eine ganze Reihe kenne. Ob das nun von meiner Oma ist oder auch nur, weil man sie auch in Aschaffenburg verwendet, kann ich nicht sagen. Aber es schafft dennoch ein Gefühl der Verbundenheit.

Der letzte Halt bevor wir nach Königsberg fahren ist die traditionsreiche Vogelwarte „Fringilla“ in Rossitten (Рыбачий, Rybatschi), immer noch auf der Nehrung. Sie wurde schon im Jahr 1901 gegründet und hat viel zur der Erforschung der Gewohnheiten der Zugvögel beigetragen. Sie befindet sich mitten im Wald. Unser Führer zeigt uns die seiner Aussage nach größten Netze der Welt, die in Form einer Reuse angeordnet sind, und mit denen sie jeden Tag Dutzende von Vögel fangen, sie beringen und dann wieder freilassen. Natürlich kommt die Führung nicht ohne eine Demonstration aus, und so zeigt er uns am Beispiel eines (halbwegs) frisch gefangenen Buntspechts, wie die Ornithologen in der Vogelwarte arbeiten. Armer kleiner Piepmatz, aber ich denke, er wird es überleben.

Wir fahren zurück. Endlich. Ich bin platt. Auf unserem Weg kommen wir noch durch Cranz (Зеленоградск, Selenogradsk), das zweite berühmte Seebad am Kurischen Haff. Kleiner und weniger schick als Rauschen, aber immer noch nett anzusehen. Durch den abendlichen Verkehr wälzen wir uns in die 500.000 Einwohner Stadt Königsberg. Zu sehen bekommen wir nicht viel, das kommt morgen dran.

Zum Abendessen soll es Königsberger Klopse geben, ein klassisch ostpreußisches Gericht. Ich freue mich darauf, denn ich hatte mir ohnehin vorgenommen, die Klopse, die meine Oma als Kind immer für mich gekocht hat, in deren Heimatstadt zu probieren. Das, was wir serviert bekommen, ist zwar ganz in Ordnung, jedoch – wie mir die echten Ostpreußen in der Gruppe versichern – weit entfernt von klassischen Königsberger Klopsen. Schmeckt auch ganz anders als bei meiner Oma. Ich nehme mir für zuhause vor, ein Originalrezept zu suchen und sie einfach selbst zu kochen.

Und noch etwas habe ich heute über ostpreußische Kulinaria gelernt: Der Meschkinnes oder Bärenfang ist ein klassisches alkoholisches Getränk aus dem alten Ostpreußen, das besonders im kalten Winter für die innere Wärme sorgte. Ich bestelle über das Internet ein kleines Fläschchen zum Probieren. Wenn es mir schmeckt, werde ich selbst welchen ansetzen.

Für heute ist dann erstmal Schluss. Ich genieße das komfortable Zimmer im Hotel und ruhe mich aus für den morgigen Tag, der sicher noch einmal anstrengend wird.

Ostreise 7 – Tilsit, die Kurische Nehrung und ein letztes Mal Insterburg

Wir fahren von Insterburg nach Tilsit und kommen durch Dörfer, deren Zustand mehr als jämmerlich ist. In den Ruinen der einstmals stolzen Häuser fristen dennoch Menschen ihr Dasein. Ich verstehe nicht, warum sie sich trotz der sicherlich bescheidenen Möglichkeiten, nicht wenigstens ein bisschen um ihre Häuser kümmern. Wahrscheinlich ist das dem „Scheißegal-Prinzip“ geschuldet, das offensichtlich immer dann eintritt wenn man etwas benutzt, was einem nicht gehört.

Dieser Gedanke verleitet mich dazu, etwas zu philosophieren. Was ist wohl ideale Form für Besitzverhältnisse im menschlichen Zusammenleben? Die kommunistische Sichtweise ist es offensichtlich nicht, denn wenn niemandem etwas (oder allen alles) gehört, dann geht alles vor die Hunde, wie man hier an allen Ecken und Enden immer noch sehen kann. Das Gegenteil, Großgrundbesitzer (einschließlich Großkonzerne) ist auch keine erstrebenswerte Form des Zusammenlebens. Ebenso wie im Kommunismus fehlt die Freiheit des Einzelnen. Die Lösung muss irgendwo dazwischen liegen, wo jeder genug zum Leben und Wohnen besitzt. In den Dörfern mit freien Bauern in Ostpreußen hat das zumindest bis zum Krieg anscheinend gut funktioniert, denn selbst das kleinste Kaff besitzt das ein oder andere prächtige Haus. Zumindest kann man heute noch sehen, dass es früher einmal prächtig war.

Tilsit, heute Советск (Sowjetsk), hat etwa 42.000 Einwohner und der Zustand der Stadt liegt irgendwo zwischen Insterburg und Gumbinnen. Man kann sehen, dass einige Anstrengungen unternommen worden sind, um die alte Substanz zu retten, es gibt jedoch noch viel zu tun. Als wir ankommen, machen wir einen kleinen Spaziergang über die Hohe Straße, die Hauptstraße der Stadt, bis zur Königin Luise Brücke über die Memel, die gleichzeitig die natürliche Grenze zu Litauen darstellt. Die Brücke wurde vor nicht allzu langer Zeit renoviert und sieht auf ostpreußischer Seite ziemlich beeindruckend aus. Etwas störend ist lediglich der russische Kontrollposten. Auf einem zur Erinnerung an Ostpreußens erste Straßenbahn aufgestellten Wagen sind viele Bilder vom alten Tilsit zu sehen. Es war einmal eine wirklich schöne Stadt.

Weiter geht es über endlose Alleen in Richtung Kurische Nehrung. Die ostpreußischen Alleen sind wirklich prägend für die Landschaft. Sie führen schnurgerade bis zur nächsten Kreuzung, wo sie sich mit einer anderen Allee schneiden. Die Bäume links und rechts der relativ schmalen Straßen sind in sehr gutem Zustand, und das gute Wetter tut sein übriges, um das Flair dieses Landes voll zur Wirkung kommen zu lassen. Wunderschön – und wieder das Gefühl von Heimat. In den kleinen Dörfern, die wir immer wieder durchqueren findet sich Bauernidylle par excellence wieder: Überall Ziegen und Gänse, ein paar wenige Kühe, Katzen und Hunde, die frei herumstromern und Kinder, die auf der Straße spielen. Wenn man gerade in einem Ort ist, wo die Häuser halbwegs intakt sind, fühlt man sich um 100 Jahre in die Vergangenheit versetzt.

Noch etwas ist deutlich anders, als in meinem Alltagsleben in Aschaffenburg: Störche. Hier ist alles voller Störche. Wenn man den Blick durch die Landschaft streifen lässt, sieht man überall Storchennester, von denen einige auch noch besetzt sind – der Rest hat sich schon auf den Weg in den Süden gemacht. Die Nester sind auf Strommasten, Kaminen, Wassertürmen und in den allgegenwärtigen Ruinen. In den wenigen Tagen, in denen ich jetzt in Ostpreußen bin habe ich ohne zu übertreiben mehr Störche und Storchennester gesehen, als in meinem gesamten bisherigen Leben.

Wir fahren durch die Elchniederung entlang des Flusses Gilge bis fast zu dessen Mündung in das Kurische Haff. Das Haff ist durch die Kurische Nehrung von der Ostsee quasi abgeschnitten, hat nur einen sehr geringen Salzgehalt und im Gegensatz zur Ostsee relativ warmes Wasser. Leider kommen wir nicht dazu, unsere Füße ins Wasser zu hängen, denn das Ufer des Haffs besteht aus einem sicherlich hundert Meter breiten Schilfgürtel. Morgen werden wir aber wohl näher ans Wasser kommen.

Nach unserem obligatorischen Mittagessen aus heißen Würstchen am Bus fahren wir wieder zurück nach Insterburg. Heute Abend steht zwar noch ein Konzert eines lokalen Chores in der katholischen Kirche an, ich entscheide mich aber, die letzten Stunden in Insterburg für mich zu verbringen. Je näher wir der Stadt kommen, desto deutlich kann ich eine Art Abnabelung spüren. Waren die ersten Tage hier von Eindrücken geprägt, die mir oft direkt unter die Haut gegangen sind, so habe ich nun das Gefühl wachsender Stabilität. Es fühlt sich in der Tat so an, als wäre eine lange offene Rechnung nun beglichen.

In Groß Berschkallen (Birken) machen wir noch einen kurzen Stopp, der es mir ermöglicht, die Ruine der Kirche zu fotografieren. Ohne Worte. Im Bus haben wir dann noch Gelegenheit von Juri, einem lokalen Kunsthandwerker, Bernsteinschmuck zu kaufen. Ostpreußen ist bekannt für seinen Bernstein, deshalb beschließe ich, die Mitbringsel für meine Familie hier zu erwerben.

Um 16.00 Uhr sind wir zurück in Insterburg. Ich mache mich direkt wieder auf den Weg in die Stadt und besuche die Teile, die ich gestern nicht gesehen habe, hauptsächlich entlang der Wilhelmstraße, die parallel zur Hindenburgstraße verläuft. Ich sehe mir die Lokschuppen an, die noch erhaltenen Gebäude von diversen Schulen (Frieda Jung Mittelschule, Otto Braun Mittelschule, Gymnasium), sowie die Reformierte Kirche, die heute russisch orthodox ist. Gottseidank haben sie das wunderschöne, alte Gotteshaus nicht komplett im üblichen Zuckerbäckerstil umgestaltet, sondern sich mit goldenen orthodoxen Kreuzen auf den Turmspitzen begnügt.

Nach einem Abstecher zur Markthalle, zum Neuen Markt (Stresemannplatz) mit dem Gesellschaftshaus und noch einmal in die Wassergasse, besuche ich den Gedenkstein für das berühmte Ännchen von Tharau, das in Insterburg begraben wurde. Der Rückweg zum Hotel führt mich über das Pregeltor, über die Autobrücke über die Angerapp, an der Schlossruine vorbei über die Mühlstraße zum Alten Markt und von dort wieder die Hindenburgstraße hinauf.

Mit jeder Minute, die verstreicht, fühlt sich die Insterburgreise für mich kompletter, vollständiger an. Ich habe alles gesehen, was ich sehen wollte und was noch zu sehen war, ich habe alles erledigt, weswegen ich hergekommen bin. So kann ich morgen mit leichtem Herzen und ohne Wehmut losfahren nach Königsberg.

Ostreise 6 – Kraupischken, Gumbinnen und zu Fuß durch Insterburg

Die Vielfalt an Emotionen, die ich hier in Ostpreußen erlebe ist groß: Nach wie vor Trauer über all das, was verloren gegangen ist, besonders durch die sinnlosen Zerstörungen eines sinnlosen Krieges. Wut darüber, dass die neuen Bewohner der alten Städte das, was der Krieg hat stehen lassen, achtlos haben verfallen lassen. Und gleichzeitig das Gefühl, dass das, was die alte Heimat ausgemacht hat, die Energie, noch immer hier ist. Auch wenn die Ostpreußen ein kunterbunt aus Einwanderern zusammengemischtes Volk waren, haben sie sich in nur wenigen Jahrhunderten dennoch eine eigene Identität geschaffen. Man kann sie noch heute spüren.

Direkt nach dem Frühstück brechen wir zu einer Tour über Kraupischken nach Gumbinnen auf (Notiz an mich selbst: Der automatischen Rechtschreibung unbedingt das Wort „Gumbinnen“ beibringen, damit sie es nicht ständig in „Gummibären“ ändert). Zuvor machen wir jedoch noch am Bahnhof Insterburg halt. Die alten Insterburger in der Gruppe erzählen, dass der Bahnhof heute noch so ähnlich aussieht, wie zu der Zeit als sie fliehen mussten. Die Vorstellung, dass dies vielleicht der Ausgangspunkt der Flucht meiner Großmutter war, macht mir eine Gänsehaut.

Nächster Stopp ist im traditionsreichen Trakehner Gestüt Georgenburg. Es wurde 1722 gegründet und brachte bis zum 2. Weltkrieg eine Reihe berühmter Pferde hervor. Im 19. Jahrhundert kam das Gestüt in Staatsbesitz, nach dem Krieg in russischen Staatsbesitz und wurde schließlich in den 1990er Jahren privatisiert. Heute werden hier immer noch Pferde gezüchtet.

Es geht weiter nach Kraupischken, wo wir das private Ostpreußenmuseum von Juri besuchen, dem pensionierten Leiter der Ortsschule. Er hat in den letzten 20 Jahren unzählige Gegenstände und Informationen über das alte und neue Ostpreußen zusammengetragen. Besonders stolz berichtet er darüber, dass über seine Sammlung und auch über die Einträge in den Gästebüchern schon über 200 Besucher lange vermisste Verwandte wiedergefunden haben. Die reichhaltige Substanz, die Energie des alten Ostpreußens ist hier mit Händen greifbar. Wieder fühle ich unendliche Trauer.

Über die alte Gumbinner Chaussee, eine wunderschöne Allee, geht es weiter nach Gussow, dem frühere Gumbinnen. Unser Reiseführer Iwan erzählt uns, dass diese Stadt seit einer Reihe von Jahren einen jungen, sehr engagierten Bürgermeister hat, der aus der Region stammt. Seitdem geht es mit Gumbinnen bergauf und es ist der überwiegende Teil der alten Bausubstanz bereits saniert oder zumindest konserviert. Als wir in die Stadt fahren, sehen wir sofort den Unterschied zu Insterburg. Hier sieht es tatsächlich renoviert und aufgeräumt aus. Unsere beiden Ziele hier, die Salzburger Kirche und die berühmte Elchstatue nehme ich zwar mit, jedoch ist mein Fokus schon jetzt auf unsere Rückkehr nach Insterburg gerichtet.

Gegen 14.00 Uhr treffen wir dann wieder beim Hotel ein. Einige von uns verabschieden sich, um mit dem Taxi in ihre Heimatorte in der Umgebung zu fahren, ich jedoch mache mich direkt auf die Socken, um Insterburg zu Fuß zu erkunden. Ich habe eine zweisprachige Karte mit den Straßenbezeichnungen von 1932 und heute. Dort habe ich auch schon alle meine Ziele entdeckt: Die Spritzenstraße, die Mühlenstraße, die Pregelstraße (liebe Rechtschreibkorrektur, ich meine die nach dem Fluss benannte Straße und nicht „Prügelstrafe“ *grmpf*) und ganz wichtig, die Wassergasse. In all diesen Straße haben meine Vorfahren aus der 2. bis 4. Generation, also meine Groß- bis Ururgroßeltern gelebt.

Mein erster Weg führt mich die Hindenburgstraße (heute Leninstraße) entlang zum alte Markt. Ich habe schon gehört, dass er als einziges Gebiet in Insterburg schwer von den Bomben des 2. Weltkriegs getroffen wurde. Der Platz sieht zwar nett aus, hat jedoch nichts mehr mit dem alten Markt von vor dem Krieg gemeinsam. Früher stand dort auch die Lutherkirche, in der, wenn ich mich recht entsinne, meine Großmutter getauft wurde. Leider hat die Kirche die englischen Bomben nicht überlebt und ihre Reste wurden in den 1970er Jahren gesprengt. Es stehen nur noch drei Torbögen, durch die man direkt die bekannte Bogenbrücke über die Angerapp erreicht. Ich sehe mich dort kurz um, jedoch zieht es mich weiter zur Pregelstraße, die an der Lutherkirche in den alten Markt mündet.

Die Straße sieht schon auf den ersten Blick seltsam unbewohnt aus und als ich ihr ein wenig folge, merke ich schnell, dass auch hier kein Stein auf dem anderen geblieben ist. Es gibt zwar gelegentlich ein Gebäude, jedoch liegen die Grundstücke links und rechts der Straße meistens brach. Keine Chance, die richtige Hausnummer zu finden oder auch nur eine Idee davon zu bekommen, wo sie gewesen sein könnte. In der Mühlenstraße, die parallel zur Pregelstraße verläuft, bietet sich mir das gleiche Bild. Nichts zu sehen, nichts zu holen. Und auch in der Spritzenstraße finde ich nur die Rückseite eines Supermarktes und viel Brache. Bis hierhin ist das alles eher enttäuschend. Zwar kann ich mir ausmalen, wie meine Vorfahren auf diesen Straßen entlang gegangen sind, aber eigentlich hatte ich mir etwas Handfesteres erhofft.

Ich bemerke, dass ich es bisher vermieden habe, die Wassergasse 7 aufzusuchen. Dies ist die Adresse, die mich am meisten interessiert und gleichzeitig scheue ich mich etwas, dorthin zu gehen. Meine Stimmung wird nicht gerade besser, als ich bemerke, dass die Wassergasse in gelb im Plan eingezeichnet ist. Das bedeutet, dass die Straße heute nicht mehr existiert. Ich gehe dennoch hin, vielleicht gibt es ja Reste in irgendeiner Form.

Ich verlasse die Spritzenstraße, überquere die Königsberger Straße und folge der Obermühlenstraße. Die erste Querstraße, die Lindenstraße, finde ich sofort. Danach käme theoretisch die Wassergasse und wiederum danach die Reformierte Kirchenstraße. Der Abstand zwischen der Lindenstraße und der nächsten sichtbaren „Querstraße“ erscheint mir jedoch im Vergleich zum Plan verdächtig kurz. Deshalb sehe ich mir die Sache genauer an. Das, was wie eine Querstraße aussah, ist keine – dafür ist es aber das, was früher einmal die Wassergasse war. Und an einem offensichtlich aus der Vorkriegszeit erhaltenen Haus prangt deutlich sichtbar die Hausnummer 3. Volltreffer! Naja, zumindest fast, denn das Haus mit der Nummer 3 ist so ziemlich das einzige in diesem Abschnitt der ehemaligen Wassergasse und von der Nummer 5 und 7 ist nichts mehr zu sehen. Stattdessen stehen dort jetzt Garagen aus billigen Steinen und Wellblech, die an die Slums südamerikanischer Großstädte erinnern. Aber zumindest kann ich mit großer Sicherheit sagen, wo das Haus einmal stand. Und das reicht mir.

Ich setze mich kurz in den Schatten und lasse meine Gedanken schweifen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich meine Großmutter und ihre Schwestern als junge Mädchen hier spielen. Immerhin hatten sie zumindest einen Teil ihrer Jugend in dieser Gasse ein intaktes Zuhause, bevor der Krieg begann, irgendwann auch Ostpreußen einholte und sie schließlich im Januar 1945 flüchten mussten.

Der wichtigste Grund meiner Reise ist es, den Kreis zu schließen und das, was da 1945 seinen Anfang nahm so energetisch „kurzzuschließen“, dass sich die Energien von Schock und Trauma entladen und die alten Wunden in allen Generationen endlich heilen können. Zu diesem Zweck habe ich etwas Erde und Blumensamen von meinem Grundstück zuhause mitgebracht. Die Samen und einen Teil der Erde lasse ich in der Wassergasse. Rund um die Wellblechgaragen wuchern alle möglichen Pflanzen – dort werden die Samen im nächsten Frühjahr aufgehen und blühen.
Den Rest der Erde nehme ich wieder mit zum Ort der ehemaligen Lutherkirche. Das Ufer der Angerapp dort hat mir gut gefallen und ich habe vor, dort mit einem kleinen Ritual den Kreis tatsächlich zu schließen. Das Universum meint es gut mit mir, denn ich bin dort auf einer Parkbank quasi alleine, führe mein Ritual durch und übergebe den Rest der Aschaffenburger Erde dem Ufer der Angerapp.

Mein Plan sieht vor, auch etwas von Insterburg mit nach Hause zu nehmen und als erstes springt mir ein Bruchstück eines Backsteines ins Auge. Die alten Häuser hier in Ostpreußen sind oft traditionell aus rotem Backstein mit roten Dächern gebaut – auch so etwas, was mir auf tiefster Ebene bekannt vorkommt. Also nehme ich das kleine Stück Backstein mit. Ein wenig später „drängt“ sich mir noch ein weiterer, natürlicher Stein auf, der unbedingt auch mit nach Aschaffenburg will. Ich erfülle ihm seinen Wunsch. Schließlich finde ich auch noch einige Samen, die ich auch noch mitnehme. Sie werden zuhause einen hübschen Topf erhalten und hoffentlich austreiben.

Puuh … der Hauptteil meiner Aufgabe hier ist erledigt. Um ehrlich zu sein, weiß ich gerade gar nicht, wie ich mich fühlen soll. Erleichtert, aufgewühlt, traurig, froh … Chaos. Ich laufe noch ein wenig durch die Stadt und fotografiere die alten Häuser. Vielleicht werde ich die Bilder meiner Großmutter zeigen.

Es fühlt sich so an, als ob ich noch einige Zeit brauchen werde, um mich selbst wieder zu sortieren. Und die positiven Veränderungen, die meine Reise hoffentlich möglich macht, kommen ohnehin in ihrer eigenen Zeit.

Der Insterburger Wasserturm von der Belowstraße aus gesehen
Der Insterburger Wasserturm von der Belowstraße aus gesehen

Nachdem ich noch meine Wasservorräte im Supermarkt aufgefüllt habe, komme ich ausgelaugt im Hotel an. Fertig für heute. Nachher noch das Abendessen, während dessen ich wieder im ostpreußischen Dialekt baden werde, den eine ganze Reihe von Mitreisenden sprechen, und der mich vor allem an meine beiden Großtanten, die Schwestern meiner Großmutter, erinnert. Interessanterweise ist der Dialekt bei meiner Großmutter selbst nicht so ausgeprägt. Aber über den Grund dafür werde ich wohl ein anderes Mal sinnieren müssen – oder vielleicht wird es mir auch gar nicht gelingen. Ist letztlich auch nicht so wichtig …