Heute morgen geht es etwas gemütlicher zu als bisher. Wir haben reichlich Zeit zum Frühstücken, bevor es um 9 Uhr auf eine Rundfahrt durch Königsberg geht. Tamara, unsere Reiseführerin erzählt uns einiges über die Stadt. Gleich zu Beginn kommen wir an der ehemaligen Schnapsbrennerei Petereit vorbei – das ist der Mädchenname meiner Großmutter. Sicher kein ganz seltener Name in Ostpreußen, aber ich muss trotzdem bei Gelegenheit forschen, ob es Verbindungen nach Insterburg gibt.
Vom alten Zentrum Königsbergs ist nach dem Krieg nicht viel übrig geblieben. Die englischen Bomber haben in nur zwei Angriffen einer Jahrhunderte alten Kulturstadt den Garaus gemacht. Heute hat Königsberg keine Altstadt, keine Fußgängerzone, kein Gesicht. Als ich das alles auf mich wirken lasse, kommt der Moment, wo es mir den Atem verschlägt und die Tränen in die Augen treibt. Was für eine sinnlose, mutwillige, verblendete Zerstörung. Generell ist das, was von allen Seiten im 2. Weltkrieg an Architektur, Kunst und Kultur ausgelöscht wurde – ganz zu Schweigen von den Millionen Menschenleben – so unendlich groß und war so unendlich wertvoll, dass ich das Gefühl habe, dass die Nazis und die Alliierten Europa ein ganzes Stück zurück in Richtung Steinzeit gebombt haben. Noch jetzt beim Schreiben schießen mir immer wieder die Tränen darüber in die Augen. Die Geschichte eines ganzen Kontinents wurde in nur sechs Jahren zu einem wichtigen Teil zerstört. Vorstellen, welche Kräfte dazu geführt haben, dass sich die Völker Europas immer wieder gegenseitig abgeschlachtet haben (und ab 1939 so richtig gründlich), kann ich mir nicht. Ja – die Kriege zwischen den Völkern wurden in der Regel von den Mächtigen angezettelt. Aber mitgemacht haben die kleinen Leute immer. Manche unter Zwang, aber viel zu viele mit Begeisterung. Die Definition von Selbstzerstörung.
Unsere Reiseleiterin Tamara erzählt auch, wie viel sie von den alten Königsbergern über die Geschichte ihrer Stadt gelernt hat, nachdem die ab den 1990er Jahren wieder zu Besuch kamen. Zuvor gab es nur die offizielle Version der Geschichte der Stadt: Die slawischen Pruzzen lebten hier, es gab eine zeitweilige Unterbrechung des Friedens durch den Deutschorden und die Deutschen und seit 1945 ist das Land wieder in russischer Hand und damit ist alles gut. Als Tamara über die Besucher aus dem Westen noch anfügt: „Die Ostpreussen haben Königsberg die Seele wiedergebracht“, bricht mir fast das Herz. Sie hat recht. Gottseidank kommt seit der Wende auch in Königsberg der deutsche Teil der Geschichte der Stadt Stück für Stück wieder ans Tageslicht. Erhaltene Gebäude werden restauriert, berühmte Söhne und Töchter der Stadt werden geehrt, auch wenn sie keine Russen waren.
Wir kommen beim Bernsteinmuseum an, das sich in einem noch aus den Zeiten der Stadtbefestigung erhaltenen und nach dem Krieg wieder aufgebauten Torhaus befindet. Die Geschichte dieses Schmucksteins aus fossilem Harz hier wiederzugeben, würde den Rahmen sprengen, wer mag kann aber hier nachlesen. 95% der weltweiten Vorräte an echtem Bernstein liegen in Ostpreußen, genauer in Palmnicken (Янтарный, Jantarny). Dort werden bis heute große Mengen an Bernstein aus der Erde geholt. Was man damit alles anfangen kann, sehen wir im Museum. Die Bandbreite reicht von wunderschön über kitschig bis fast ästhetisch kriminell. Aber über Geschmack lässt sich ja bekanntlich (nicht) streiten. Leider ist im Museum das Fotografieren nicht erlaubt, so dass ich keine Bilder machen kann.
Weiter geht es durch die Stadt mit einigen wenigen Stopps. Wir sehen unter anderem den Hansaplatz, den Hafen, das Marinemuseum von außen, das Schauspielhaus und fahren weiter bis zum Dom. Hier ist das Ende der Tour.
Der Königsberger Dom wurde im 2. Weltkrieg stark zerstört und stand jahrzehntelang als Ruine auf der Kneiphof-Insel mitten in der Stadt. Er entging der Sprengung während der Breschnew Ära einzig und alleine aus dem Grund, dass unter der Kirche das Grab des großen Philosophen Immanuel Kant lag und immer noch liegt. Erst nach der Wende wurde der Dom mit immens großem Aufwand und mithilfe von Spenden wiederaufgebaut und restauriert. Er beherbergt heute die größte Kirchenorgel in der gesamten Russischen Föderation. Da in der Kirche auch geteilte Orgel- und Sinfoniekonzerte stattfinden, haben die Sitzbänke eine Besonderheit: Die geneigte Rückenlehne lässt sich umklappen, so dass während des Konzerts alle Besucher kurz aufstehen, die Rückenlehne umklappen und sich auf die gegenüberliegende Bank setzen und damit in die andere Richtung schauen können. Tamara versichert uns, dass das für 2-3 Minuten ein Höllenlärm ist 😉
Um 14.00 Uhr wäre ein Konzert des Dom-Organisten auf eben dieser Orgel zu hören, ich entschließe mich aber, mir stattdessen lieber noch etwas von der Stadt anzusehen. Daher laufe ich vom Dom zurück zum Hotel – eine ordentliche Strecke, die man jedoch in einer knappen Stunde bewältigen kann. Ich komme durch Gegenden, in denen sozialistische Plattenbauten neben heruntergekommenen alten Gebäuden, und andere, in denen hübsch sanierte Häuser neben neomodernen Klötzen stehen – und umgekehrt. Es wird auch viel gebaut und saniert. Aber es ist wahr: Der Stadt fehlt das Zentrum und das Gesicht. Ich wünsche mir, dass sich das eines Tages wieder ändern wird, denn Königsberg kann eine wunderschöne Stadt sein. Die Wehmut, die mich angesichts dessen, was verloren gegangen ist, überkommen hat, ist indes eine andere, als die in Insterburg. Dort war ich persönlich betroffen. Hier in Königsberg ist der Schmerz eher allgemein, aber nichtsdestotrotz groß.
Als ich im Hotel ankomme ist erst einmal Ausruhen angesagt – es ist heiß und die letzten Tage waren insgesamt sehr anstrengend. Meine Ostreise nähert sich dem Ende. Nachher gibt es das letzte Abendessen und morgen fahren wir über Danzig und Stettin nach Hause. Ich werde mir im Bus die Zeit nehmen und die Reise noch einmal Revue passieren lassen. Für heute reicht es daher erst einmal.