Wir fahren von Insterburg nach Tilsit und kommen durch Dörfer, deren Zustand mehr als jämmerlich ist. In den Ruinen der einstmals stolzen Häuser fristen dennoch Menschen ihr Dasein. Ich verstehe nicht, warum sie sich trotz der sicherlich bescheidenen Möglichkeiten, nicht wenigstens ein bisschen um ihre Häuser kümmern. Wahrscheinlich ist das dem „Scheißegal-Prinzip“ geschuldet, das offensichtlich immer dann eintritt wenn man etwas benutzt, was einem nicht gehört.
Dieser Gedanke verleitet mich dazu, etwas zu philosophieren. Was ist wohl ideale Form für Besitzverhältnisse im menschlichen Zusammenleben? Die kommunistische Sichtweise ist es offensichtlich nicht, denn wenn niemandem etwas (oder allen alles) gehört, dann geht alles vor die Hunde, wie man hier an allen Ecken und Enden immer noch sehen kann. Das Gegenteil, Großgrundbesitzer (einschließlich Großkonzerne) ist auch keine erstrebenswerte Form des Zusammenlebens. Ebenso wie im Kommunismus fehlt die Freiheit des Einzelnen. Die Lösung muss irgendwo dazwischen liegen, wo jeder genug zum Leben und Wohnen besitzt. In den Dörfern mit freien Bauern in Ostpreußen hat das zumindest bis zum Krieg anscheinend gut funktioniert, denn selbst das kleinste Kaff besitzt das ein oder andere prächtige Haus. Zumindest kann man heute noch sehen, dass es früher einmal prächtig war.
Tilsit, heute Советск (Sowjetsk), hat etwa 42.000 Einwohner und der Zustand der Stadt liegt irgendwo zwischen Insterburg und Gumbinnen. Man kann sehen, dass einige Anstrengungen unternommen worden sind, um die alte Substanz zu retten, es gibt jedoch noch viel zu tun. Als wir ankommen, machen wir einen kleinen Spaziergang über die Hohe Straße, die Hauptstraße der Stadt, bis zur Königin Luise Brücke über die Memel, die gleichzeitig die natürliche Grenze zu Litauen darstellt. Die Brücke wurde vor nicht allzu langer Zeit renoviert und sieht auf ostpreußischer Seite ziemlich beeindruckend aus. Etwas störend ist lediglich der russische Kontrollposten. Auf einem zur Erinnerung an Ostpreußens erste Straßenbahn aufgestellten Wagen sind viele Bilder vom alten Tilsit zu sehen. Es war einmal eine wirklich schöne Stadt.
Weiter geht es über endlose Alleen in Richtung Kurische Nehrung. Die ostpreußischen Alleen sind wirklich prägend für die Landschaft. Sie führen schnurgerade bis zur nächsten Kreuzung, wo sie sich mit einer anderen Allee schneiden. Die Bäume links und rechts der relativ schmalen Straßen sind in sehr gutem Zustand, und das gute Wetter tut sein übriges, um das Flair dieses Landes voll zur Wirkung kommen zu lassen. Wunderschön – und wieder das Gefühl von Heimat. In den kleinen Dörfern, die wir immer wieder durchqueren findet sich Bauernidylle par excellence wieder: Überall Ziegen und Gänse, ein paar wenige Kühe, Katzen und Hunde, die frei herumstromern und Kinder, die auf der Straße spielen. Wenn man gerade in einem Ort ist, wo die Häuser halbwegs intakt sind, fühlt man sich um 100 Jahre in die Vergangenheit versetzt.
Noch etwas ist deutlich anders, als in meinem Alltagsleben in Aschaffenburg: Störche. Hier ist alles voller Störche. Wenn man den Blick durch die Landschaft streifen lässt, sieht man überall Storchennester, von denen einige auch noch besetzt sind – der Rest hat sich schon auf den Weg in den Süden gemacht. Die Nester sind auf Strommasten, Kaminen, Wassertürmen und in den allgegenwärtigen Ruinen. In den wenigen Tagen, in denen ich jetzt in Ostpreußen bin habe ich ohne zu übertreiben mehr Störche und Storchennester gesehen, als in meinem gesamten bisherigen Leben.
Wir fahren durch die Elchniederung entlang des Flusses Gilge bis fast zu dessen Mündung in das Kurische Haff. Das Haff ist durch die Kurische Nehrung von der Ostsee quasi abgeschnitten, hat nur einen sehr geringen Salzgehalt und im Gegensatz zur Ostsee relativ warmes Wasser. Leider kommen wir nicht dazu, unsere Füße ins Wasser zu hängen, denn das Ufer des Haffs besteht aus einem sicherlich hundert Meter breiten Schilfgürtel. Morgen werden wir aber wohl näher ans Wasser kommen.
Nach unserem obligatorischen Mittagessen aus heißen Würstchen am Bus fahren wir wieder zurück nach Insterburg. Heute Abend steht zwar noch ein Konzert eines lokalen Chores in der katholischen Kirche an, ich entscheide mich aber, die letzten Stunden in Insterburg für mich zu verbringen. Je näher wir der Stadt kommen, desto deutlich kann ich eine Art Abnabelung spüren. Waren die ersten Tage hier von Eindrücken geprägt, die mir oft direkt unter die Haut gegangen sind, so habe ich nun das Gefühl wachsender Stabilität. Es fühlt sich in der Tat so an, als wäre eine lange offene Rechnung nun beglichen.
In Groß Berschkallen (Birken) machen wir noch einen kurzen Stopp, der es mir ermöglicht, die Ruine der Kirche zu fotografieren. Ohne Worte. Im Bus haben wir dann noch Gelegenheit von Juri, einem lokalen Kunsthandwerker, Bernsteinschmuck zu kaufen. Ostpreußen ist bekannt für seinen Bernstein, deshalb beschließe ich, die Mitbringsel für meine Familie hier zu erwerben.
Um 16.00 Uhr sind wir zurück in Insterburg. Ich mache mich direkt wieder auf den Weg in die Stadt und besuche die Teile, die ich gestern nicht gesehen habe, hauptsächlich entlang der Wilhelmstraße, die parallel zur Hindenburgstraße verläuft. Ich sehe mir die Lokschuppen an, die noch erhaltenen Gebäude von diversen Schulen (Frieda Jung Mittelschule, Otto Braun Mittelschule, Gymnasium), sowie die Reformierte Kirche, die heute russisch orthodox ist. Gottseidank haben sie das wunderschöne, alte Gotteshaus nicht komplett im üblichen Zuckerbäckerstil umgestaltet, sondern sich mit goldenen orthodoxen Kreuzen auf den Turmspitzen begnügt.
Nach einem Abstecher zur Markthalle, zum Neuen Markt (Stresemannplatz) mit dem Gesellschaftshaus und noch einmal in die Wassergasse, besuche ich den Gedenkstein für das berühmte Ännchen von Tharau, das in Insterburg begraben wurde. Der Rückweg zum Hotel führt mich über das Pregeltor, über die Autobrücke über die Angerapp, an der Schlossruine vorbei über die Mühlstraße zum Alten Markt und von dort wieder die Hindenburgstraße hinauf.
Mit jeder Minute, die verstreicht, fühlt sich die Insterburgreise für mich kompletter, vollständiger an. Ich habe alles gesehen, was ich sehen wollte und was noch zu sehen war, ich habe alles erledigt, weswegen ich hergekommen bin. So kann ich morgen mit leichtem Herzen und ohne Wehmut losfahren nach Königsberg.