Ostreise 7 – Tilsit, die Kurische Nehrung und ein letztes Mal Insterburg

Wir fahren von Insterburg nach Tilsit und kommen durch Dörfer, deren Zustand mehr als jämmerlich ist. In den Ruinen der einstmals stolzen Häuser fristen dennoch Menschen ihr Dasein. Ich verstehe nicht, warum sie sich trotz der sicherlich bescheidenen Möglichkeiten, nicht wenigstens ein bisschen um ihre Häuser kümmern. Wahrscheinlich ist das dem „Scheißegal-Prinzip“ geschuldet, das offensichtlich immer dann eintritt wenn man etwas benutzt, was einem nicht gehört.

Dieser Gedanke verleitet mich dazu, etwas zu philosophieren. Was ist wohl ideale Form für Besitzverhältnisse im menschlichen Zusammenleben? Die kommunistische Sichtweise ist es offensichtlich nicht, denn wenn niemandem etwas (oder allen alles) gehört, dann geht alles vor die Hunde, wie man hier an allen Ecken und Enden immer noch sehen kann. Das Gegenteil, Großgrundbesitzer (einschließlich Großkonzerne) ist auch keine erstrebenswerte Form des Zusammenlebens. Ebenso wie im Kommunismus fehlt die Freiheit des Einzelnen. Die Lösung muss irgendwo dazwischen liegen, wo jeder genug zum Leben und Wohnen besitzt. In den Dörfern mit freien Bauern in Ostpreußen hat das zumindest bis zum Krieg anscheinend gut funktioniert, denn selbst das kleinste Kaff besitzt das ein oder andere prächtige Haus. Zumindest kann man heute noch sehen, dass es früher einmal prächtig war.

Tilsit, heute Советск (Sowjetsk), hat etwa 42.000 Einwohner und der Zustand der Stadt liegt irgendwo zwischen Insterburg und Gumbinnen. Man kann sehen, dass einige Anstrengungen unternommen worden sind, um die alte Substanz zu retten, es gibt jedoch noch viel zu tun. Als wir ankommen, machen wir einen kleinen Spaziergang über die Hohe Straße, die Hauptstraße der Stadt, bis zur Königin Luise Brücke über die Memel, die gleichzeitig die natürliche Grenze zu Litauen darstellt. Die Brücke wurde vor nicht allzu langer Zeit renoviert und sieht auf ostpreußischer Seite ziemlich beeindruckend aus. Etwas störend ist lediglich der russische Kontrollposten. Auf einem zur Erinnerung an Ostpreußens erste Straßenbahn aufgestellten Wagen sind viele Bilder vom alten Tilsit zu sehen. Es war einmal eine wirklich schöne Stadt.

Weiter geht es über endlose Alleen in Richtung Kurische Nehrung. Die ostpreußischen Alleen sind wirklich prägend für die Landschaft. Sie führen schnurgerade bis zur nächsten Kreuzung, wo sie sich mit einer anderen Allee schneiden. Die Bäume links und rechts der relativ schmalen Straßen sind in sehr gutem Zustand, und das gute Wetter tut sein übriges, um das Flair dieses Landes voll zur Wirkung kommen zu lassen. Wunderschön – und wieder das Gefühl von Heimat. In den kleinen Dörfern, die wir immer wieder durchqueren findet sich Bauernidylle par excellence wieder: Überall Ziegen und Gänse, ein paar wenige Kühe, Katzen und Hunde, die frei herumstromern und Kinder, die auf der Straße spielen. Wenn man gerade in einem Ort ist, wo die Häuser halbwegs intakt sind, fühlt man sich um 100 Jahre in die Vergangenheit versetzt.

Noch etwas ist deutlich anders, als in meinem Alltagsleben in Aschaffenburg: Störche. Hier ist alles voller Störche. Wenn man den Blick durch die Landschaft streifen lässt, sieht man überall Storchennester, von denen einige auch noch besetzt sind – der Rest hat sich schon auf den Weg in den Süden gemacht. Die Nester sind auf Strommasten, Kaminen, Wassertürmen und in den allgegenwärtigen Ruinen. In den wenigen Tagen, in denen ich jetzt in Ostpreußen bin habe ich ohne zu übertreiben mehr Störche und Storchennester gesehen, als in meinem gesamten bisherigen Leben.

Wir fahren durch die Elchniederung entlang des Flusses Gilge bis fast zu dessen Mündung in das Kurische Haff. Das Haff ist durch die Kurische Nehrung von der Ostsee quasi abgeschnitten, hat nur einen sehr geringen Salzgehalt und im Gegensatz zur Ostsee relativ warmes Wasser. Leider kommen wir nicht dazu, unsere Füße ins Wasser zu hängen, denn das Ufer des Haffs besteht aus einem sicherlich hundert Meter breiten Schilfgürtel. Morgen werden wir aber wohl näher ans Wasser kommen.

Nach unserem obligatorischen Mittagessen aus heißen Würstchen am Bus fahren wir wieder zurück nach Insterburg. Heute Abend steht zwar noch ein Konzert eines lokalen Chores in der katholischen Kirche an, ich entscheide mich aber, die letzten Stunden in Insterburg für mich zu verbringen. Je näher wir der Stadt kommen, desto deutlich kann ich eine Art Abnabelung spüren. Waren die ersten Tage hier von Eindrücken geprägt, die mir oft direkt unter die Haut gegangen sind, so habe ich nun das Gefühl wachsender Stabilität. Es fühlt sich in der Tat so an, als wäre eine lange offene Rechnung nun beglichen.

In Groß Berschkallen (Birken) machen wir noch einen kurzen Stopp, der es mir ermöglicht, die Ruine der Kirche zu fotografieren. Ohne Worte. Im Bus haben wir dann noch Gelegenheit von Juri, einem lokalen Kunsthandwerker, Bernsteinschmuck zu kaufen. Ostpreußen ist bekannt für seinen Bernstein, deshalb beschließe ich, die Mitbringsel für meine Familie hier zu erwerben.

Um 16.00 Uhr sind wir zurück in Insterburg. Ich mache mich direkt wieder auf den Weg in die Stadt und besuche die Teile, die ich gestern nicht gesehen habe, hauptsächlich entlang der Wilhelmstraße, die parallel zur Hindenburgstraße verläuft. Ich sehe mir die Lokschuppen an, die noch erhaltenen Gebäude von diversen Schulen (Frieda Jung Mittelschule, Otto Braun Mittelschule, Gymnasium), sowie die Reformierte Kirche, die heute russisch orthodox ist. Gottseidank haben sie das wunderschöne, alte Gotteshaus nicht komplett im üblichen Zuckerbäckerstil umgestaltet, sondern sich mit goldenen orthodoxen Kreuzen auf den Turmspitzen begnügt.

Nach einem Abstecher zur Markthalle, zum Neuen Markt (Stresemannplatz) mit dem Gesellschaftshaus und noch einmal in die Wassergasse, besuche ich den Gedenkstein für das berühmte Ännchen von Tharau, das in Insterburg begraben wurde. Der Rückweg zum Hotel führt mich über das Pregeltor, über die Autobrücke über die Angerapp, an der Schlossruine vorbei über die Mühlstraße zum Alten Markt und von dort wieder die Hindenburgstraße hinauf.

Mit jeder Minute, die verstreicht, fühlt sich die Insterburgreise für mich kompletter, vollständiger an. Ich habe alles gesehen, was ich sehen wollte und was noch zu sehen war, ich habe alles erledigt, weswegen ich hergekommen bin. So kann ich morgen mit leichtem Herzen und ohne Wehmut losfahren nach Königsberg.

Ostreise 6 – Kraupischken, Gumbinnen und zu Fuß durch Insterburg

Die Vielfalt an Emotionen, die ich hier in Ostpreußen erlebe ist groß: Nach wie vor Trauer über all das, was verloren gegangen ist, besonders durch die sinnlosen Zerstörungen eines sinnlosen Krieges. Wut darüber, dass die neuen Bewohner der alten Städte das, was der Krieg hat stehen lassen, achtlos haben verfallen lassen. Und gleichzeitig das Gefühl, dass das, was die alte Heimat ausgemacht hat, die Energie, noch immer hier ist. Auch wenn die Ostpreußen ein kunterbunt aus Einwanderern zusammengemischtes Volk waren, haben sie sich in nur wenigen Jahrhunderten dennoch eine eigene Identität geschaffen. Man kann sie noch heute spüren.

Direkt nach dem Frühstück brechen wir zu einer Tour über Kraupischken nach Gumbinnen auf (Notiz an mich selbst: Der automatischen Rechtschreibung unbedingt das Wort „Gumbinnen“ beibringen, damit sie es nicht ständig in „Gummibären“ ändert). Zuvor machen wir jedoch noch am Bahnhof Insterburg halt. Die alten Insterburger in der Gruppe erzählen, dass der Bahnhof heute noch so ähnlich aussieht, wie zu der Zeit als sie fliehen mussten. Die Vorstellung, dass dies vielleicht der Ausgangspunkt der Flucht meiner Großmutter war, macht mir eine Gänsehaut.

Nächster Stopp ist im traditionsreichen Trakehner Gestüt Georgenburg. Es wurde 1722 gegründet und brachte bis zum 2. Weltkrieg eine Reihe berühmter Pferde hervor. Im 19. Jahrhundert kam das Gestüt in Staatsbesitz, nach dem Krieg in russischen Staatsbesitz und wurde schließlich in den 1990er Jahren privatisiert. Heute werden hier immer noch Pferde gezüchtet.

Es geht weiter nach Kraupischken, wo wir das private Ostpreußenmuseum von Juri besuchen, dem pensionierten Leiter der Ortsschule. Er hat in den letzten 20 Jahren unzählige Gegenstände und Informationen über das alte und neue Ostpreußen zusammengetragen. Besonders stolz berichtet er darüber, dass über seine Sammlung und auch über die Einträge in den Gästebüchern schon über 200 Besucher lange vermisste Verwandte wiedergefunden haben. Die reichhaltige Substanz, die Energie des alten Ostpreußens ist hier mit Händen greifbar. Wieder fühle ich unendliche Trauer.

Über die alte Gumbinner Chaussee, eine wunderschöne Allee, geht es weiter nach Gussow, dem frühere Gumbinnen. Unser Reiseführer Iwan erzählt uns, dass diese Stadt seit einer Reihe von Jahren einen jungen, sehr engagierten Bürgermeister hat, der aus der Region stammt. Seitdem geht es mit Gumbinnen bergauf und es ist der überwiegende Teil der alten Bausubstanz bereits saniert oder zumindest konserviert. Als wir in die Stadt fahren, sehen wir sofort den Unterschied zu Insterburg. Hier sieht es tatsächlich renoviert und aufgeräumt aus. Unsere beiden Ziele hier, die Salzburger Kirche und die berühmte Elchstatue nehme ich zwar mit, jedoch ist mein Fokus schon jetzt auf unsere Rückkehr nach Insterburg gerichtet.

Gegen 14.00 Uhr treffen wir dann wieder beim Hotel ein. Einige von uns verabschieden sich, um mit dem Taxi in ihre Heimatorte in der Umgebung zu fahren, ich jedoch mache mich direkt auf die Socken, um Insterburg zu Fuß zu erkunden. Ich habe eine zweisprachige Karte mit den Straßenbezeichnungen von 1932 und heute. Dort habe ich auch schon alle meine Ziele entdeckt: Die Spritzenstraße, die Mühlenstraße, die Pregelstraße (liebe Rechtschreibkorrektur, ich meine die nach dem Fluss benannte Straße und nicht „Prügelstrafe“ *grmpf*) und ganz wichtig, die Wassergasse. In all diesen Straße haben meine Vorfahren aus der 2. bis 4. Generation, also meine Groß- bis Ururgroßeltern gelebt.

Mein erster Weg führt mich die Hindenburgstraße (heute Leninstraße) entlang zum alte Markt. Ich habe schon gehört, dass er als einziges Gebiet in Insterburg schwer von den Bomben des 2. Weltkriegs getroffen wurde. Der Platz sieht zwar nett aus, hat jedoch nichts mehr mit dem alten Markt von vor dem Krieg gemeinsam. Früher stand dort auch die Lutherkirche, in der, wenn ich mich recht entsinne, meine Großmutter getauft wurde. Leider hat die Kirche die englischen Bomben nicht überlebt und ihre Reste wurden in den 1970er Jahren gesprengt. Es stehen nur noch drei Torbögen, durch die man direkt die bekannte Bogenbrücke über die Angerapp erreicht. Ich sehe mich dort kurz um, jedoch zieht es mich weiter zur Pregelstraße, die an der Lutherkirche in den alten Markt mündet.

Die Straße sieht schon auf den ersten Blick seltsam unbewohnt aus und als ich ihr ein wenig folge, merke ich schnell, dass auch hier kein Stein auf dem anderen geblieben ist. Es gibt zwar gelegentlich ein Gebäude, jedoch liegen die Grundstücke links und rechts der Straße meistens brach. Keine Chance, die richtige Hausnummer zu finden oder auch nur eine Idee davon zu bekommen, wo sie gewesen sein könnte. In der Mühlenstraße, die parallel zur Pregelstraße verläuft, bietet sich mir das gleiche Bild. Nichts zu sehen, nichts zu holen. Und auch in der Spritzenstraße finde ich nur die Rückseite eines Supermarktes und viel Brache. Bis hierhin ist das alles eher enttäuschend. Zwar kann ich mir ausmalen, wie meine Vorfahren auf diesen Straßen entlang gegangen sind, aber eigentlich hatte ich mir etwas Handfesteres erhofft.

Ich bemerke, dass ich es bisher vermieden habe, die Wassergasse 7 aufzusuchen. Dies ist die Adresse, die mich am meisten interessiert und gleichzeitig scheue ich mich etwas, dorthin zu gehen. Meine Stimmung wird nicht gerade besser, als ich bemerke, dass die Wassergasse in gelb im Plan eingezeichnet ist. Das bedeutet, dass die Straße heute nicht mehr existiert. Ich gehe dennoch hin, vielleicht gibt es ja Reste in irgendeiner Form.

Ich verlasse die Spritzenstraße, überquere die Königsberger Straße und folge der Obermühlenstraße. Die erste Querstraße, die Lindenstraße, finde ich sofort. Danach käme theoretisch die Wassergasse und wiederum danach die Reformierte Kirchenstraße. Der Abstand zwischen der Lindenstraße und der nächsten sichtbaren „Querstraße“ erscheint mir jedoch im Vergleich zum Plan verdächtig kurz. Deshalb sehe ich mir die Sache genauer an. Das, was wie eine Querstraße aussah, ist keine – dafür ist es aber das, was früher einmal die Wassergasse war. Und an einem offensichtlich aus der Vorkriegszeit erhaltenen Haus prangt deutlich sichtbar die Hausnummer 3. Volltreffer! Naja, zumindest fast, denn das Haus mit der Nummer 3 ist so ziemlich das einzige in diesem Abschnitt der ehemaligen Wassergasse und von der Nummer 5 und 7 ist nichts mehr zu sehen. Stattdessen stehen dort jetzt Garagen aus billigen Steinen und Wellblech, die an die Slums südamerikanischer Großstädte erinnern. Aber zumindest kann ich mit großer Sicherheit sagen, wo das Haus einmal stand. Und das reicht mir.

Ich setze mich kurz in den Schatten und lasse meine Gedanken schweifen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich meine Großmutter und ihre Schwestern als junge Mädchen hier spielen. Immerhin hatten sie zumindest einen Teil ihrer Jugend in dieser Gasse ein intaktes Zuhause, bevor der Krieg begann, irgendwann auch Ostpreußen einholte und sie schließlich im Januar 1945 flüchten mussten.

Der wichtigste Grund meiner Reise ist es, den Kreis zu schließen und das, was da 1945 seinen Anfang nahm so energetisch „kurzzuschließen“, dass sich die Energien von Schock und Trauma entladen und die alten Wunden in allen Generationen endlich heilen können. Zu diesem Zweck habe ich etwas Erde und Blumensamen von meinem Grundstück zuhause mitgebracht. Die Samen und einen Teil der Erde lasse ich in der Wassergasse. Rund um die Wellblechgaragen wuchern alle möglichen Pflanzen – dort werden die Samen im nächsten Frühjahr aufgehen und blühen.
Den Rest der Erde nehme ich wieder mit zum Ort der ehemaligen Lutherkirche. Das Ufer der Angerapp dort hat mir gut gefallen und ich habe vor, dort mit einem kleinen Ritual den Kreis tatsächlich zu schließen. Das Universum meint es gut mit mir, denn ich bin dort auf einer Parkbank quasi alleine, führe mein Ritual durch und übergebe den Rest der Aschaffenburger Erde dem Ufer der Angerapp.

Mein Plan sieht vor, auch etwas von Insterburg mit nach Hause zu nehmen und als erstes springt mir ein Bruchstück eines Backsteines ins Auge. Die alten Häuser hier in Ostpreußen sind oft traditionell aus rotem Backstein mit roten Dächern gebaut – auch so etwas, was mir auf tiefster Ebene bekannt vorkommt. Also nehme ich das kleine Stück Backstein mit. Ein wenig später „drängt“ sich mir noch ein weiterer, natürlicher Stein auf, der unbedingt auch mit nach Aschaffenburg will. Ich erfülle ihm seinen Wunsch. Schließlich finde ich auch noch einige Samen, die ich auch noch mitnehme. Sie werden zuhause einen hübschen Topf erhalten und hoffentlich austreiben.

Puuh … der Hauptteil meiner Aufgabe hier ist erledigt. Um ehrlich zu sein, weiß ich gerade gar nicht, wie ich mich fühlen soll. Erleichtert, aufgewühlt, traurig, froh … Chaos. Ich laufe noch ein wenig durch die Stadt und fotografiere die alten Häuser. Vielleicht werde ich die Bilder meiner Großmutter zeigen.

Es fühlt sich so an, als ob ich noch einige Zeit brauchen werde, um mich selbst wieder zu sortieren. Und die positiven Veränderungen, die meine Reise hoffentlich möglich macht, kommen ohnehin in ihrer eigenen Zeit.

Der Insterburger Wasserturm von der Belowstraße aus gesehen
Der Insterburger Wasserturm von der Belowstraße aus gesehen

Nachdem ich noch meine Wasservorräte im Supermarkt aufgefüllt habe, komme ich ausgelaugt im Hotel an. Fertig für heute. Nachher noch das Abendessen, während dessen ich wieder im ostpreußischen Dialekt baden werde, den eine ganze Reihe von Mitreisenden sprechen, und der mich vor allem an meine beiden Großtanten, die Schwestern meiner Großmutter, erinnert. Interessanterweise ist der Dialekt bei meiner Großmutter selbst nicht so ausgeprägt. Aber über den Grund dafür werde ich wohl ein anderes Mal sinnieren müssen – oder vielleicht wird es mir auch gar nicht gelingen. Ist letztlich auch nicht so wichtig …

Ostreise 5 – Über die Grenze bis Insterburg

Auf allen Ebenen kommen Dinge in Bewegung. Diverse kleine Symptome zeigen mir heute morgen an, dass das insbesondere auch für die körperliche Ebene gilt. Gottseidank bin ich gut Freund mit meinem Körper, so dass wir uns noch vor dem Frühstück darauf einigen, dass ich die Symptome und ihre Botschaft zur Kenntnis nehme, so dass sie dann relativ schnell wieder verschwinden dürfen.

Das Frühstück im Hotel in Thorn ist kurz, aber reichhaltig und gut. Danach trabt die Herde wieder zurück zum Bus und wir setzen uns in Richtung Grenze in Bewegung. Die Route führt über Marienburg und Elbing. Die Klimaanlage im Bus ist Gold wert, denn draußen ist nach wie vor Spätsommer mit über 30°C. Wenn wir nicht gerade auf der Autobahn sind, fahren wir wieder durch endlose Kornfelder, die entweder bereits abgeerntet sind, oder auf denen die Ernte gerade in vollem Gange ist. Zwischendrin sieht man immer wieder kleine Bauernhöfe. Ab und zu fahren wir auch über das Kopfsteinpflaster endlos langer Alleen, die einen ersten Eindruck vom alten Ostpreußen vermitteln.

Der Plan sieht vor, dass wir um die Mittagszeit die russische Grenze bei Heiligenbeil erreichen. Der Fahrer lässt uns wissen, dass die Abfertigung zwischen anderthalb und zwei Stunden dauern wird. Zwischendrin sehe ich einige Male Bilder ich einer Art von Flashbacks. Sie entstammen offensichtlich nicht Erinnerungen … zumindest nicht den meinen. Na das kann ja noch heiter werden 😉

Wir erreichen die Grenze pünktlich. Wer jedoch gedacht hatte, dass sich die Ausreise aus der EU für EU Bürger leicht gestaltet, der wurde herb enttäuscht. Nachdem wir eine halbe Stunde auf der polnischen Seite vor dem leeren Zöllnerhäuschen einfach nur zu gewartet haben, wurden unsere Pässe eingesammelt und elektronisch abgeglichen, was dann gleich noch einmal eine halbe Stunde gedauert hat. Weil der Busfahrer den Motor nicht laufen lassen durfte und wir deswegen während dieser Zeit nicht in den Genuss der Klimaanlage kamen, gab es einigen Unmut. Irgendwann ging es dann doch noch weiter und mit den Durchsagen des Fahrers zum Prozedere auf russischer Seite („Leisten Sie den Anweisungen der Zöllner unbedingt Folge und schießen Sie um Himmelswillen bloß keine Fotos!“) begann der spannende Teil.

Als erstes: Visumkontrolle. Am ersten Schlagbaum geht ein Zöllner durch den Bus und schaut, dass auch alle ein Visum haben. Wir werden gezählt. An der eigentlichen russischen Grenzstation angekommen müssen wir zunächst alle im Bus warten, bis wir von einem Uniformierten aufgefordert wurden, denselben zu verlassen. Dann geht es ab in die Station, wo wir einzeln vortreten und unsere Pässe kontrollieren lassen müssen. Ein intensiver, prüfender Blick, um das Passfoto mit der Realität zu vergleichen, dann ein zufriedenes Grunzen und das klappern des Stempels.

Versehen mit Einreisepapieren („Verlieren Sie die bloß nicht, sonst kommen Sie nicht wieder raus!“) müssen wir in der Station warten, bis alle abgefertigt sind und wir als Gruppe den Bus wieder besteigen dürfen. Nebenbei beobachten wir, wie die Zöllner ein paar Jugendliche, die in Polen wohl ein paar Schnäpse und Biere zuviel gekauft haben, ordentlich mit den Mitteln der Bürokratie malträtieren. Am Ende – so erzählte uns später der Busfahrer – müssen sie zwar den Zoll für die mitgebrachten Spirituosen zahlen, dürfen den „Stoff“ selbst aber nicht mitnehmen. Das wird dann wohl ein rauschendes Fest für die Zöllner heute Abend …

Zurück im Bus, dürfen wir ein kleines Stückchen weiterfahren, nur um dann am nächsten Schlagbaum nochmals durchgezählt zu werden. Nach insgesamt gut zwei Stunden an der Grenze haben wir dann endlich wirklich Russland erreicht.

Die ersten Eindrücke sind schwierig zu beschreiben. Bildlich hat sich zum Osten Polens nicht furchtbar viel verändert. Die quasi durchgehende Kulturlandschaft ist jedoch einer relativ natürlichen Heidelandschaft gewichen, die mir auf eine unbestimmte Art und Weise vertraut vorkommt. Gleichzeitig kommt eine tiefe Traurigkeit über das was da an Wurzeln verloren gegangen ist – nicht nur bei meiner Familie, sondern insgesamt.

Wir fahren durch kleine Orte, in denen noch viele alte Gebäude stehen, die sich jedoch in einem jämmerlichen Zustand befinden. In anderen Städtchen hat man begonnen, die alte Bausubstanz zu restaurieren und stellenweise sieht es besser aus. Als wir uns Königsberg nähern sehen wir auf einmal furchtbar viel Baustellen. Hier wird in Hinblick auf die vier dort stattfindenden Fußballspiele der WM 2018 wie verrückt gebaut.

Einen Teil des Weges von Königsberg nach Insterburg legen wir auf der alten Reichsstraße 1 zurück, die 1392 km lang war und von Aachen über Berlin bis Eydtkuhnen an der litauischen Grenze führte. Stellenweise, das Gefühl hat man jedenfalls, befindet sich auf der Straße noch das originale Pflaster aus den 1930er Jahren. Andere Abschnitte sind in gutem Zustand.

Irgendwann erreichen wir den Kreis Insterburg und Iwan, unser russischer Reiseleiter begrüßt uns mit den Worten „WIllkommen zuhause“. Und irgendwie ist es auch wie zuhause – auf einer ganz tiefen Ebene.

Noch bevor wir ins Hotel fahren, führt uns Iwan auf einer kleinen Tour mit dem Bus durch die Stadt. Die heute entstandenen Fotos sind daher auch nur Schnappschüsse aus dem fahrenden Bus. Der erste Eindruck setzt das fort, was ich schon zuvor gesehen habe: Viel alte Bausubstanz, jedoch größtenteils in erbärmlichem Zustand. Dennoch lässt sich die frühere Schönheit Insterburgs erahnen. Morgen werde ich Zeit haben, die Stadt zu Fuß zu erkunden, und einige alte Wohnadressen meiner Vorfahren abklappern. Bis dahin ist erst einmal Ausruhen angesagt.