Ein Durchbruch bei der Ahnenforschung

Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich mit der Ahnenforschung (Genealogie) begonnen habe. Ich muss etwa 18 Jahre alt gewesen sein und habe natürlich als erstes meine lebenden Vorfahren, sprich Großeltern ausgefragt. Danach ging es klassisch weiter: Briefe an die Standesämter geschrieben, Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden angefordert und das ganze dann in einem DOS Programm (ja, so alt bin ich schon ;-)) eingetragen.

Standesämter gibt es in Deutschland flächendeckend seit 1876. Im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ist es in der Regel auch problemlos möglich, Urkunden bis zurück zu dieser Zeit anzufordern. Komplizierter wird es, wenn es a) um die Zeit davor oder b) um Gebiete geht, die heute nicht mehr zu Deutschland gehören.

Da meine Großmutter aus Ostpreußen stammt, stand ich quasi seit dem Beginn meiner genealogischen Forschungen bei dieser Linie vor einer verschlossenen Tür, bei der wenig bis gar keine Hoffnung bestand, dass ich sie jemals öffnen können würde. Meine Oma hat sich natürlich noch an ihre eigenen Großeltern erinnert, da war dann aber auch Schluss. Von den Urgroßeltern wusste sie außer dem Vornamen einer Uroma nichts mehr. Briefe an die Stellen, in denen das Wenige, was an Beständen aus ostpreußischen Standesämtern und Kirchenbüchern den Krieg überstanden hat aufbewahrt wird, wurden entweder erst nach vielen Monaten oder gar nicht beantwortet. Und immer war das Ergebnis negativ.

Seit das Internet zum Alltagsmedium geworden ist, hat sich auch im Bereich Ahnenforschung einiges getan. Insbesondere die “Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage” (die Mormonen), für die die Abstammung aus religiösen Gründen sehr wichtig ist, leisten hier unschätzbare Arbeit, indem sie alles, was sie an Dokumenten in die Finger bekommen können, digitalisieren, mithilfe von Freiwilligen indexieren und dann kostenlos über die FamilySearch Website zur Verfügung stellen. Was ich in diesen Datenbanken schon an Informationen gefunden habe, ist von unschätzbarem Wert.

Neben FamilySearch gibt es noch einige weitere, kommerzielle Webseiten, wie Ancestry.de oder MyHeritage.de, die ebenfalls indexierte Daten und eine Community anbieten. Dort hatte ich mich auch schon vor Jahren registriert, dann aber wieder gekündigt, weil keine neuen Informationen von Bedeutung mehr zu finden waren. Insbesondere auch nicht in Bezug auf meine ostpreußischen Vorfahren. Es blieb dabei – meine Urgroßeltern hatte ich, ab der Generation davor fehlte alles.

In dem Programm, das ich für meine Ahnenforschung benutze (MacStammbaum – tolle Software!) gibt es eine Fächeransicht, bei der die Ahnen in konzentrischen Kreissegmenten angezeigt werden. Jedes Mal wenn ich das Ding betrachtet habe, und die riesige Lücke in einem Quadranten sah, nagte es an mir. Klar, es ist normal, dass man in einigen Linien weiter kommt als in anderen, aber nur bis zu den Urgroßeltern? Das war definitiv nicht weit genug.

Ahnenforschung passiert bei mir immer in Schüben. Mal ein paar Tage sehr intensiv, und dann Wochen oder Monate wieder gar nicht. Letzte Woche habe ich dann, den Impuls gehabt, mal wieder bei Ancestry.de reinzuschauen. So richtig viel habe ich mir nicht erwartet und mehr aus Gewohnheit habe ich auch die ollen Ostpreußen mal wieder durch die Suche gejagt. Als dann die ersten Treffer auf dem Bildschirm erschienen, ist mir buchstäblich alles aus dem Gesicht gefallen …

Gefunden habe ich schließlich digitalisierte Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden meiner Urur-Großelten und aller ihrer Kinder, sowie die Namen der Generation davor, alle vom Standesamt Insterburg. Nach 25 Jahren erfolgloser Suche hat sich das für mich wie der heilige Gral angefühlt. Wirklich.

Der anschließende intensive Raubzug durch die Archive von Ancestry.de hat mir noch eine ganze Reihe weiterer Erkenntnisse in anderen Linien beschert, unter anderem von Ahnen, deren Namen ich bisher immer falsch gelesen hatte und deswegen nicht weitergekommen bin.

Bei den Ostpreußen bin ich einen großen Schritt vorwärts gekommen. Die Daten, die mich nun interessieren liegen alle vor 1876, so dass es keine standesamtlichen Aufzeichnungen mehr geben kann. Ob und wann die betreffenden Kirchenbücher auftauchen und indexiert werden, weiß ich nicht, aber es ist ja schon einmal ein Wunder geschehen …

Ostreise 10 – Rückkehr nach Deutschland

Heute morgen – same procedure as always: Aufstehen, Frühstück, Abfahrt um 8.00 Uhr Richtung Grenze. Letzte Blicke auf Königsberg. Abschied von Johanna, unserer aktuellen Reiseleiterin (Tamara gestern hat nur die Stadtführung gemacht). Die Abfertigung durch die russischen Grenzer geht halbwegs flott: Alle raus aus dem Bus und in die Station und dann einzeln vortreten. Bei der Passkontrolle wird jedoch nach wie vor auf psychologische Tricks zur Einschüchterung gesetzt. Dunkle Scheiben, ein kleiner Schlitze um den Pass durchzureichen, mehrere Uniformierte pro Kontrollstelle und ernste Gesichter. Wir kommen jedoch ohne Probleme aus Russland raus. Danach geht weiter zur polnischen Grenzkontrolle – die Einreise in die EU.

Blick über den Oberteich in Königsberg
Blick über den Oberteich in Königsberg

Die Polen sind halbwegs entspannt. Pässe einsammeln und alle Schränke und Klappen des Busses auf zur Inspektion. Dann fällt ihnen ein, dass sie noch ein schickes Röntgengerät in der Grenzstation stehen haben, also müssen noch vier Koffer raus zum Durchleuchten. Nachdem darin nichts Verdächtiges gefunden wurde, werden sie wieder eingeladen und wir dürfen fahren. Nach insgesamt einer Stunde und 20 Minuten sind wir durch die Grenze durch – laut Mario, unserem Fahrer, eine rekordverdächtige Zeit.

Ich habe nun Ruhe, über die vergangenen Tage nachzudenken. War es richtig hierher zu kommen? Ja, ohne Einschränkungen. Was hat es mir gebracht? Mehr Verständnis und eine viel tiefere Verbindung zu immerhin 25% meiner Wurzeln. In der Gesellschaft der Mitreisenden habe ich begonnen, mich mit Ostpreußen zu identifizieren. Das, was früher ein reines mentales Wissen war, wurde nun durch emotionales und seelisches Wissen vervollständigt. Das ist in der Tat genau das, was passiert ist: Die Lücke, die mein ganzes Leben lang in Bezug auf den Teil von mir, der aus Ostpreußen stammt, vorhanden war, ist nun gefüllt. Ich bin mir noch nicht sicher, ob sie schon genügend gefüllt ist – vielleicht muss ich nochmal hinfahren – aber auf jeden Fall ist das bisher vorhandene teilweise Vakuum nun nicht mehr da. An seiner Stelle steht nun ein kleiner Baum, der gehegt und gepflegt werden will, damit seine Wurzeln wachsen und mir Stabilität geben.

Ostpreußen ist ein wunderschönes Land mit einem großen Herzen, das erst noch dabei ist, sich von den Wunden zu erholen, die ihm vor 70 Jahren zugefügt wurden. Ich wünsche mir, dass die Menschen, die heute dort leben, gut für das Land sorgen und es wieder zum Leben erwecken und blühen lassen. Das Potenzial dazu ist auf jeden Fall da. Und es gibt auch Anlass zur Hoffnung. Auch wenn noch viel zu tun ist, hat man den Eindruck, dass man zumindest schon einmal damit begonnen hat.

Auf einer etwas materielleren Ebene war die Organisation der Reise durchdacht und professionell. Natürlich gab es auch diejenigen in der Gruppe, die sich über das ein oder andere aufgeregt haben, unzufrieden waren oder denen sonst irgendetwas nicht gepasst hat. Ich jedoch bin einzig und alleine mit dem Ziel gekommen, nach Insterburg zu reisen. Ich hatte jeden Tag genießbares bis sehr gutes Essen, ein Zimmer mit Bad und Toilette und ein Bett – mehr habe ich nicht gebraucht. Die Hotels in Thorn und Königsberg waren sehr gut, das Hotel in Insterburg war unter dem Strich zwar keine vier Sterne wert, aber dennoch absolut in Ordnung. Die Reiseleiter waren kompetent und haben sich jederzeit um alles gekümmert.

Ich beglückwünsche mich zu der Entscheidung einen mobilen Hotspot mitgenommen und mit einer russischen Beeline Simkarte versorgt zu haben. Für umgerechnet etwas mehr als sieben Euro hatte ich während der ganzen Zeit mobiles Internet in akzeptabler bis sehr guter Geschwindigkeit, sogar auf der Kurischen Nehrung. Unter anderem habe ich es während meines Spazierganges in Königsberg dazu genutzt, um mir per Navigationssystem den Weg zurück zum Hotel zu weisen. Das gab mir den nötigen Rückhalt, um mich alleine durch die Stadt zu begeben. In den Hotels in Thorn und Königsberg gab es zwar ein gutes und kostenloses WLAN, das in Insterburg hat jedoch nicht wirklich funktioniert. Die mobile Netzabdeckung war insgesamt sehr gut und absolut mit Deutschland vergleichbar.

Die Orientierung in Insterburg und Königsberg ging mit jedem Tag immer besser. Wenn man sich ein wenig mit den kyrillischen Schriftzeichen beschäftigt, dann kann man nach dem optischen Ein-Finger-Suchsystem halbwegs leicht Straßennamen und Ladenschilder entziffern – die Wörter und Wortstämme sind oft mit deutschen, englischen oder französischen Ausdrücken verwandt. Аптека (Apteka) ist beispielsweise Apotheke, Ресторан (Restoran) und Кафе (Kafe) erklären sich von selbst. Quizfrage: Was bedeutet dieses Schild 🙂

Straßenschild in KönigsbergIch würde jederzeit wieder in das Königsberger Gebiet fahren – vielleicht sogar auf eigene Faust ohne Gruppe. Es gibt viele, die ein bisschen Deutsch sprechen, besonders die Taxifahrer, oder zur Not auch Englisch. Die Hotels kann man auch online buchen und es gibt sogar einen Direktflug von Berlin nach Königsberg. Mit dem Auto ist es zwar eine weite Strecke, aber immer noch machbar. Wenn ich meine Idee umsetze, und mit Familie und Fahrrad komme, werden wir wohl den Wagen nehmen müssen.

Ich bin froh, wieder nach Hause zu fahren. Es waren 10 Tage, vollgepackt mit Eindrücken und Erfahrungen. Vergessen werde ich diese Reise sicherlich niemals. Nun sind wir in Polen unterwegs und werden irgendwann zwischen acht und neun Uhr in Oranienburg aussteigen, noch eine Nacht im Hotel schlafen und dann mit dem Flieger von Berlin nach Hause.

Ostreise 9 – Königsberg

Heute morgen geht es etwas gemütlicher zu als bisher. Wir haben reichlich Zeit zum Frühstücken, bevor es um 9 Uhr auf eine Rundfahrt durch Königsberg geht. Tamara, unsere Reiseführerin erzählt uns einiges über die Stadt. Gleich zu Beginn kommen wir an der ehemaligen Schnapsbrennerei Petereit vorbei – das ist der Mädchenname meiner Großmutter. Sicher kein ganz seltener Name in Ostpreußen, aber ich muss trotzdem bei Gelegenheit forschen, ob es Verbindungen nach Insterburg gibt.

Der Pregel in KönigsbergVom alten Zentrum Königsbergs ist nach dem Krieg nicht viel übrig geblieben. Die englischen Bomber haben in nur zwei Angriffen einer Jahrhunderte alten Kulturstadt den Garaus gemacht. Heute hat Königsberg keine Altstadt, keine Fußgängerzone, kein Gesicht. Als ich das alles auf mich wirken lasse, kommt der Moment, wo es mir den Atem verschlägt und die Tränen in die Augen treibt. Was für eine sinnlose, mutwillige, verblendete Zerstörung. Generell ist das, was von allen Seiten im 2. Weltkrieg an Architektur, Kunst und Kultur ausgelöscht wurde – ganz zu Schweigen von den Millionen Menschenleben – so unendlich groß und war so unendlich wertvoll, dass ich das Gefühl habe, dass die Nazis und die Alliierten Europa ein ganzes Stück zurück in Richtung Steinzeit gebombt haben. Noch jetzt beim Schreiben schießen mir immer wieder die Tränen darüber in die Augen. Die Geschichte eines ganzen Kontinents wurde in nur sechs Jahren zu einem wichtigen Teil zerstört. Vorstellen, welche Kräfte dazu geführt haben, dass sich die Völker Europas immer wieder gegenseitig abgeschlachtet haben (und ab 1939 so richtig gründlich), kann ich mir nicht. Ja – die Kriege zwischen den Völkern wurden in der Regel von den Mächtigen angezettelt. Aber mitgemacht haben die kleinen Leute immer. Manche unter Zwang, aber viel zu viele mit Begeisterung. Die Definition von Selbstzerstörung.

Unsere Reiseleiterin Tamara erzählt auch, wie viel sie von den alten Königsbergern über die Geschichte ihrer Stadt gelernt hat, nachdem die ab den 1990er Jahren wieder zu Besuch kamen. Zuvor gab es nur die offizielle Version der Geschichte der Stadt: Die slawischen Pruzzen lebten hier, es gab eine zeitweilige Unterbrechung des Friedens durch den Deutschorden und die Deutschen und seit 1945 ist das Land wieder in russischer Hand und damit ist alles gut. Als Tamara über die Besucher aus dem Westen noch anfügt: „Die Ostpreussen haben Königsberg die Seele wiedergebracht“, bricht mir fast das Herz. Sie hat recht. Gottseidank kommt seit der Wende auch in Königsberg der deutsche Teil der Geschichte der Stadt Stück für Stück wieder ans Tageslicht. Erhaltene Gebäude werden restauriert, berühmte Söhne und Töchter der Stadt werden geehrt, auch wenn sie keine Russen waren.

Wir kommen beim Bernsteinmuseum an, das sich in einem noch aus den Zeiten der Stadtbefestigung erhaltenen und nach dem Krieg wieder aufgebauten Torhaus befindet. Die Geschichte dieses Schmucksteins aus fossilem Harz hier wiederzugeben, würde den Rahmen sprengen, wer mag kann aber hier nachlesen. 95% der weltweiten Vorräte an echtem Bernstein liegen in Ostpreußen, genauer in Palmnicken (Янтарный, Jantarny). Dort werden bis heute große Mengen an Bernstein aus der Erde geholt. Was man damit alles anfangen kann, sehen wir im Museum. Die Bandbreite reicht von wunderschön über kitschig bis fast ästhetisch kriminell. Aber über Geschmack lässt sich ja bekanntlich (nicht) streiten. Leider ist im Museum das Fotografieren nicht erlaubt, so dass ich keine Bilder machen kann.

Weiter geht es durch die Stadt mit einigen wenigen Stopps. Wir sehen unter anderem den Hansaplatz, den Hafen, das Marinemuseum von außen, das Schauspielhaus und fahren weiter bis zum Dom. Hier ist das Ende der Tour.

Der Königsberger Dom wurde im 2. Weltkrieg stark zerstört und stand jahrzehntelang als Ruine auf der Kneiphof-Insel mitten in der Stadt. Er entging der Sprengung während der Breschnew Ära einzig und alleine aus dem Grund, dass unter der Kirche das Grab des großen Philosophen Immanuel Kant lag und immer noch liegt. Erst nach der Wende wurde der Dom mit immens großem Aufwand und mithilfe von Spenden wiederaufgebaut und restauriert. Er beherbergt heute die größte Kirchenorgel in der gesamten Russischen Föderation. Da in der Kirche auch geteilte Orgel- und Sinfoniekonzerte stattfinden, haben die Sitzbänke eine Besonderheit: Die geneigte Rückenlehne lässt sich umklappen, so dass während des Konzerts alle Besucher kurz aufstehen, die Rückenlehne umklappen und sich auf die gegenüberliegende Bank setzen und damit in die andere Richtung schauen können. Tamara versichert uns, dass das für 2-3 Minuten ein Höllenlärm ist 😉

Um 14.00 Uhr wäre ein Konzert des Dom-Organisten auf eben dieser Orgel zu hören, ich entschließe mich aber, mir stattdessen lieber noch etwas von der Stadt anzusehen. Daher laufe ich vom Dom zurück zum Hotel – eine ordentliche Strecke, die man jedoch in einer knappen Stunde bewältigen kann. Ich komme durch Gegenden, in denen sozialistische Plattenbauten neben heruntergekommenen alten Gebäuden, und andere, in denen hübsch sanierte Häuser neben neomodernen Klötzen stehen – und umgekehrt. Es wird auch viel gebaut und saniert. Aber es ist wahr: Der Stadt fehlt das Zentrum und das Gesicht. Ich wünsche mir, dass sich das eines Tages wieder ändern wird, denn Königsberg kann eine wunderschöne Stadt sein. Die Wehmut, die mich angesichts dessen, was verloren gegangen ist, überkommen hat, ist indes eine andere, als die in Insterburg. Dort war ich persönlich betroffen. Hier in Königsberg ist der Schmerz eher allgemein, aber nichtsdestotrotz groß.

Als ich im Hotel ankomme ist erst einmal Ausruhen angesagt – es ist heiß und die letzten Tage waren insgesamt sehr anstrengend. Meine Ostreise nähert sich dem Ende. Nachher gibt es das letzte Abendessen und morgen fahren wir über Danzig und Stettin nach Hause. Ich werde mir im Bus die Zeit nehmen und die Reise noch einmal Revue passieren lassen. Für heute reicht es daher erst einmal.

Ostreise 8 – Rauschen und die Kurische Nehrung

Frühes Aufstehen, frühes Frühstück. Wir haben heute einiges vor: das Ostseebad Rauschen (Светлогорск, Swetlogorsk) und dann auf die Kurische Nehrung. Gestern waren wir am Haff, jedoch auf dem Festland – heute fahren wir auf die Nehrung hinaus. Als wir Insterburg verlassen bin ich doch ein bisschen wehmütig. Vielleicht muss ich doch noch einmal zurückkommen und die Region mit dem Fahrrad erkunden. Mal sehen … vielleicht wenn die Kinder ein wenig größer sind und mitkommen können.

Wir fahren wieder zurück in Richtung Königsberg, und dann weiter in Richtung Nordwesten bis Rauschen. Der Badeort hat etwa 10.000 Einwohner und liegt an der samländischen Ostseeküste. Als wir dort ankommen, sehe ich das typische Flair, das wohl jeder Badeort an der Nord- und Ostseeküste hat. Viele Buden, die vor allem Bernstein in allen Variationen anbieten, sowie Badekleidung, Essen und Trinken und was das Herz der Badegäste sonst noch begehrt. Da Rauschen im 2. Weltkrieg nicht zerstört wurde, ist viel von der alten Bausubstanz erhalten und sogar bis auf wenige Ausnahmen in gutem Zustand. Man merkt, dass die Stadt heute ein beliebtes Ausflugsziel der etwas betuchteren Bevölkerung von Königsberg ist und auch aus dem ganzen Rest der Russischen Föderation im Sommer Gäste kommen. Viele der Gebäude sind noch im Besitz des Militärs, da Rauschen nach dem Krieg vor allem der Erholung und Genesung von Soldaten und Offizieren diente. Der Strand hier ist nur bedingt zum Baden geeignet, da die Küste sehr felsig ist und der früher vorhandene Sandstrand bis auf wenige Reste inzwischen von der Ostsee abgetragen wurde. Dafür gibt es eine schöne Uferpromenade auf der sich noch dutzende von weiteren Verkaufsständen aneinanderreihen.

Bildschirmfoto 2015-08-14 um 18.42.31Gegen Mittag fahren wir weiter nach Osten bis auf die Kurische Nehrung. Sie ist 98 km lang und zwischen 300 m und 3,8 km breit. Auf der Nehrung liegen nur ganz wenige Dörfer und sie wird durch die Grenze in einen russischen und einen litauischen Teil getrennt. Die Geschichte der Nehrung ist von Sturmfluten und Sandkatastrophen gezeichnet, bei denen ganze Dörfer innerhalb sehr kurzer Zeit durch starke Winde vom Sand zugedeckt wurden – das letzte Mal in den 1980er Jahren.

Im Besucherzentrum gibt es ein Café, wo uns ein reichhaltiges Mittagessen aus Fisch in allen Variationen erwartet. Der Nachtisch besteht aus Plinsen (ein neues Wort für mich) mit roter Grütze. Ziemlich vollgefuttert werfen wir noch einen Blick auf das Wasser, bevor wir wieder in den Bus einsteigen, um weiter auf die Nehrung hinaus zu fahren – wie gesagt: Sie ist ziemlich lang und alleine der russische Anteil beträgt 46 km.

So eine Reise mit dem Bus ist eigentlich recht bequem. Man hat sein Gefährt inkl. Verpflegung und Toilette immer dabei und muss noch nicht einmal selbst fahren. Wenn die Gruppe, mit der man unterwegs ist, gut zusammenpasst (wie es die unsere weitestgehend tut – ein paar Ausreißer sind immer dabei), dann ist das eine feine Sache. Aber ich merke, dass es jetzt gegen Ende der Woche anstrengend wird. Ich bin müde und eigentlich bereit, wieder nach Hause zu fahren.

Die Nehrung wurde mittels ausgefeilter Methoden so weit befestigt, dass heute Mischwälder darauf wachsen. Bis auf wenige Ausnahmen gibt es keine Wanderdünen mehr. Zu einer dieser Ausnahmen, der Ephas Höhe, fahren wir nach dem Essen. Sie ist nach dem Mann benannt, der so viel für die Befestigung der Nehrung getan hat. Auf einem Holzsteg gehen wir einen guten Kilometer zu einer Aussichtsplattform, über die man schon einen guten Überblick über die Nehrung, die Ostsee und das Haff hat. Den besten Blick hat man aber auf der Plattform ganz oben auf der ca. 40 m hohen Düne, zu der wir dann auch noch laufen. Wunderschön.

Auf der anderen Seite kann man an einem breiten Sandstrand in der Ostsee baden. Wir machen uns also auf den Weg zurück, über den Parkplatz und zum anderen Ufer der Nehrung. Die Ostsee ist generell kälter als die Nordsee und viel kälter als das Mittelmeer. Wenn man an die 20 Grad Grenze herankommt, ist das schon etwas Besonderes. Für mich als bekennenden Warmduscher ist das definitiv nichts zum Baden, deshalb beschränke ich mich darauf, meine Füße ins Wasser zu halten. Das tut nach der ganzen Lauferei gut 🙂

Mir fällt zwischendrin auf, dass ich mittlerweile voll im „normalen Reisemodus“ bin. Die Emotionalität der vergangenen Tage ist im Wesentlichen vorbei, ein wenig Nostalgie kommt nur auf, als es im Bus um ostpreußische Wörter und Ausdrücke geht, von denen ich überraschenderweise eine ganze Reihe kenne. Ob das nun von meiner Oma ist oder auch nur, weil man sie auch in Aschaffenburg verwendet, kann ich nicht sagen. Aber es schafft dennoch ein Gefühl der Verbundenheit.

Der letzte Halt bevor wir nach Königsberg fahren ist die traditionsreiche Vogelwarte „Fringilla“ in Rossitten (Рыбачий, Rybatschi), immer noch auf der Nehrung. Sie wurde schon im Jahr 1901 gegründet und hat viel zur der Erforschung der Gewohnheiten der Zugvögel beigetragen. Sie befindet sich mitten im Wald. Unser Führer zeigt uns die seiner Aussage nach größten Netze der Welt, die in Form einer Reuse angeordnet sind, und mit denen sie jeden Tag Dutzende von Vögel fangen, sie beringen und dann wieder freilassen. Natürlich kommt die Führung nicht ohne eine Demonstration aus, und so zeigt er uns am Beispiel eines (halbwegs) frisch gefangenen Buntspechts, wie die Ornithologen in der Vogelwarte arbeiten. Armer kleiner Piepmatz, aber ich denke, er wird es überleben.

Wir fahren zurück. Endlich. Ich bin platt. Auf unserem Weg kommen wir noch durch Cranz (Зеленоградск, Selenogradsk), das zweite berühmte Seebad am Kurischen Haff. Kleiner und weniger schick als Rauschen, aber immer noch nett anzusehen. Durch den abendlichen Verkehr wälzen wir uns in die 500.000 Einwohner Stadt Königsberg. Zu sehen bekommen wir nicht viel, das kommt morgen dran.

Zum Abendessen soll es Königsberger Klopse geben, ein klassisch ostpreußisches Gericht. Ich freue mich darauf, denn ich hatte mir ohnehin vorgenommen, die Klopse, die meine Oma als Kind immer für mich gekocht hat, in deren Heimatstadt zu probieren. Das, was wir serviert bekommen, ist zwar ganz in Ordnung, jedoch – wie mir die echten Ostpreußen in der Gruppe versichern – weit entfernt von klassischen Königsberger Klopsen. Schmeckt auch ganz anders als bei meiner Oma. Ich nehme mir für zuhause vor, ein Originalrezept zu suchen und sie einfach selbst zu kochen.

Und noch etwas habe ich heute über ostpreußische Kulinaria gelernt: Der Meschkinnes oder Bärenfang ist ein klassisches alkoholisches Getränk aus dem alten Ostpreußen, das besonders im kalten Winter für die innere Wärme sorgte. Ich bestelle über das Internet ein kleines Fläschchen zum Probieren. Wenn es mir schmeckt, werde ich selbst welchen ansetzen.

Für heute ist dann erstmal Schluss. Ich genieße das komfortable Zimmer im Hotel und ruhe mich aus für den morgigen Tag, der sicher noch einmal anstrengend wird.

Ostreise 7 – Tilsit, die Kurische Nehrung und ein letztes Mal Insterburg

Wir fahren von Insterburg nach Tilsit und kommen durch Dörfer, deren Zustand mehr als jämmerlich ist. In den Ruinen der einstmals stolzen Häuser fristen dennoch Menschen ihr Dasein. Ich verstehe nicht, warum sie sich trotz der sicherlich bescheidenen Möglichkeiten, nicht wenigstens ein bisschen um ihre Häuser kümmern. Wahrscheinlich ist das dem „Scheißegal-Prinzip“ geschuldet, das offensichtlich immer dann eintritt wenn man etwas benutzt, was einem nicht gehört.

Dieser Gedanke verleitet mich dazu, etwas zu philosophieren. Was ist wohl ideale Form für Besitzverhältnisse im menschlichen Zusammenleben? Die kommunistische Sichtweise ist es offensichtlich nicht, denn wenn niemandem etwas (oder allen alles) gehört, dann geht alles vor die Hunde, wie man hier an allen Ecken und Enden immer noch sehen kann. Das Gegenteil, Großgrundbesitzer (einschließlich Großkonzerne) ist auch keine erstrebenswerte Form des Zusammenlebens. Ebenso wie im Kommunismus fehlt die Freiheit des Einzelnen. Die Lösung muss irgendwo dazwischen liegen, wo jeder genug zum Leben und Wohnen besitzt. In den Dörfern mit freien Bauern in Ostpreußen hat das zumindest bis zum Krieg anscheinend gut funktioniert, denn selbst das kleinste Kaff besitzt das ein oder andere prächtige Haus. Zumindest kann man heute noch sehen, dass es früher einmal prächtig war.

Tilsit, heute Советск (Sowjetsk), hat etwa 42.000 Einwohner und der Zustand der Stadt liegt irgendwo zwischen Insterburg und Gumbinnen. Man kann sehen, dass einige Anstrengungen unternommen worden sind, um die alte Substanz zu retten, es gibt jedoch noch viel zu tun. Als wir ankommen, machen wir einen kleinen Spaziergang über die Hohe Straße, die Hauptstraße der Stadt, bis zur Königin Luise Brücke über die Memel, die gleichzeitig die natürliche Grenze zu Litauen darstellt. Die Brücke wurde vor nicht allzu langer Zeit renoviert und sieht auf ostpreußischer Seite ziemlich beeindruckend aus. Etwas störend ist lediglich der russische Kontrollposten. Auf einem zur Erinnerung an Ostpreußens erste Straßenbahn aufgestellten Wagen sind viele Bilder vom alten Tilsit zu sehen. Es war einmal eine wirklich schöne Stadt.

Weiter geht es über endlose Alleen in Richtung Kurische Nehrung. Die ostpreußischen Alleen sind wirklich prägend für die Landschaft. Sie führen schnurgerade bis zur nächsten Kreuzung, wo sie sich mit einer anderen Allee schneiden. Die Bäume links und rechts der relativ schmalen Straßen sind in sehr gutem Zustand, und das gute Wetter tut sein übriges, um das Flair dieses Landes voll zur Wirkung kommen zu lassen. Wunderschön – und wieder das Gefühl von Heimat. In den kleinen Dörfern, die wir immer wieder durchqueren findet sich Bauernidylle par excellence wieder: Überall Ziegen und Gänse, ein paar wenige Kühe, Katzen und Hunde, die frei herumstromern und Kinder, die auf der Straße spielen. Wenn man gerade in einem Ort ist, wo die Häuser halbwegs intakt sind, fühlt man sich um 100 Jahre in die Vergangenheit versetzt.

Noch etwas ist deutlich anders, als in meinem Alltagsleben in Aschaffenburg: Störche. Hier ist alles voller Störche. Wenn man den Blick durch die Landschaft streifen lässt, sieht man überall Storchennester, von denen einige auch noch besetzt sind – der Rest hat sich schon auf den Weg in den Süden gemacht. Die Nester sind auf Strommasten, Kaminen, Wassertürmen und in den allgegenwärtigen Ruinen. In den wenigen Tagen, in denen ich jetzt in Ostpreußen bin habe ich ohne zu übertreiben mehr Störche und Storchennester gesehen, als in meinem gesamten bisherigen Leben.

Wir fahren durch die Elchniederung entlang des Flusses Gilge bis fast zu dessen Mündung in das Kurische Haff. Das Haff ist durch die Kurische Nehrung von der Ostsee quasi abgeschnitten, hat nur einen sehr geringen Salzgehalt und im Gegensatz zur Ostsee relativ warmes Wasser. Leider kommen wir nicht dazu, unsere Füße ins Wasser zu hängen, denn das Ufer des Haffs besteht aus einem sicherlich hundert Meter breiten Schilfgürtel. Morgen werden wir aber wohl näher ans Wasser kommen.

Nach unserem obligatorischen Mittagessen aus heißen Würstchen am Bus fahren wir wieder zurück nach Insterburg. Heute Abend steht zwar noch ein Konzert eines lokalen Chores in der katholischen Kirche an, ich entscheide mich aber, die letzten Stunden in Insterburg für mich zu verbringen. Je näher wir der Stadt kommen, desto deutlich kann ich eine Art Abnabelung spüren. Waren die ersten Tage hier von Eindrücken geprägt, die mir oft direkt unter die Haut gegangen sind, so habe ich nun das Gefühl wachsender Stabilität. Es fühlt sich in der Tat so an, als wäre eine lange offene Rechnung nun beglichen.

In Groß Berschkallen (Birken) machen wir noch einen kurzen Stopp, der es mir ermöglicht, die Ruine der Kirche zu fotografieren. Ohne Worte. Im Bus haben wir dann noch Gelegenheit von Juri, einem lokalen Kunsthandwerker, Bernsteinschmuck zu kaufen. Ostpreußen ist bekannt für seinen Bernstein, deshalb beschließe ich, die Mitbringsel für meine Familie hier zu erwerben.

Um 16.00 Uhr sind wir zurück in Insterburg. Ich mache mich direkt wieder auf den Weg in die Stadt und besuche die Teile, die ich gestern nicht gesehen habe, hauptsächlich entlang der Wilhelmstraße, die parallel zur Hindenburgstraße verläuft. Ich sehe mir die Lokschuppen an, die noch erhaltenen Gebäude von diversen Schulen (Frieda Jung Mittelschule, Otto Braun Mittelschule, Gymnasium), sowie die Reformierte Kirche, die heute russisch orthodox ist. Gottseidank haben sie das wunderschöne, alte Gotteshaus nicht komplett im üblichen Zuckerbäckerstil umgestaltet, sondern sich mit goldenen orthodoxen Kreuzen auf den Turmspitzen begnügt.

Nach einem Abstecher zur Markthalle, zum Neuen Markt (Stresemannplatz) mit dem Gesellschaftshaus und noch einmal in die Wassergasse, besuche ich den Gedenkstein für das berühmte Ännchen von Tharau, das in Insterburg begraben wurde. Der Rückweg zum Hotel führt mich über das Pregeltor, über die Autobrücke über die Angerapp, an der Schlossruine vorbei über die Mühlstraße zum Alten Markt und von dort wieder die Hindenburgstraße hinauf.

Mit jeder Minute, die verstreicht, fühlt sich die Insterburgreise für mich kompletter, vollständiger an. Ich habe alles gesehen, was ich sehen wollte und was noch zu sehen war, ich habe alles erledigt, weswegen ich hergekommen bin. So kann ich morgen mit leichtem Herzen und ohne Wehmut losfahren nach Königsberg.

Ostreise 6 – Kraupischken, Gumbinnen und zu Fuß durch Insterburg

Die Vielfalt an Emotionen, die ich hier in Ostpreußen erlebe ist groß: Nach wie vor Trauer über all das, was verloren gegangen ist, besonders durch die sinnlosen Zerstörungen eines sinnlosen Krieges. Wut darüber, dass die neuen Bewohner der alten Städte das, was der Krieg hat stehen lassen, achtlos haben verfallen lassen. Und gleichzeitig das Gefühl, dass das, was die alte Heimat ausgemacht hat, die Energie, noch immer hier ist. Auch wenn die Ostpreußen ein kunterbunt aus Einwanderern zusammengemischtes Volk waren, haben sie sich in nur wenigen Jahrhunderten dennoch eine eigene Identität geschaffen. Man kann sie noch heute spüren.

Direkt nach dem Frühstück brechen wir zu einer Tour über Kraupischken nach Gumbinnen auf (Notiz an mich selbst: Der automatischen Rechtschreibung unbedingt das Wort „Gumbinnen“ beibringen, damit sie es nicht ständig in „Gummibären“ ändert). Zuvor machen wir jedoch noch am Bahnhof Insterburg halt. Die alten Insterburger in der Gruppe erzählen, dass der Bahnhof heute noch so ähnlich aussieht, wie zu der Zeit als sie fliehen mussten. Die Vorstellung, dass dies vielleicht der Ausgangspunkt der Flucht meiner Großmutter war, macht mir eine Gänsehaut.

Nächster Stopp ist im traditionsreichen Trakehner Gestüt Georgenburg. Es wurde 1722 gegründet und brachte bis zum 2. Weltkrieg eine Reihe berühmter Pferde hervor. Im 19. Jahrhundert kam das Gestüt in Staatsbesitz, nach dem Krieg in russischen Staatsbesitz und wurde schließlich in den 1990er Jahren privatisiert. Heute werden hier immer noch Pferde gezüchtet.

Es geht weiter nach Kraupischken, wo wir das private Ostpreußenmuseum von Juri besuchen, dem pensionierten Leiter der Ortsschule. Er hat in den letzten 20 Jahren unzählige Gegenstände und Informationen über das alte und neue Ostpreußen zusammengetragen. Besonders stolz berichtet er darüber, dass über seine Sammlung und auch über die Einträge in den Gästebüchern schon über 200 Besucher lange vermisste Verwandte wiedergefunden haben. Die reichhaltige Substanz, die Energie des alten Ostpreußens ist hier mit Händen greifbar. Wieder fühle ich unendliche Trauer.

Über die alte Gumbinner Chaussee, eine wunderschöne Allee, geht es weiter nach Gussow, dem frühere Gumbinnen. Unser Reiseführer Iwan erzählt uns, dass diese Stadt seit einer Reihe von Jahren einen jungen, sehr engagierten Bürgermeister hat, der aus der Region stammt. Seitdem geht es mit Gumbinnen bergauf und es ist der überwiegende Teil der alten Bausubstanz bereits saniert oder zumindest konserviert. Als wir in die Stadt fahren, sehen wir sofort den Unterschied zu Insterburg. Hier sieht es tatsächlich renoviert und aufgeräumt aus. Unsere beiden Ziele hier, die Salzburger Kirche und die berühmte Elchstatue nehme ich zwar mit, jedoch ist mein Fokus schon jetzt auf unsere Rückkehr nach Insterburg gerichtet.

Gegen 14.00 Uhr treffen wir dann wieder beim Hotel ein. Einige von uns verabschieden sich, um mit dem Taxi in ihre Heimatorte in der Umgebung zu fahren, ich jedoch mache mich direkt auf die Socken, um Insterburg zu Fuß zu erkunden. Ich habe eine zweisprachige Karte mit den Straßenbezeichnungen von 1932 und heute. Dort habe ich auch schon alle meine Ziele entdeckt: Die Spritzenstraße, die Mühlenstraße, die Pregelstraße (liebe Rechtschreibkorrektur, ich meine die nach dem Fluss benannte Straße und nicht „Prügelstrafe“ *grmpf*) und ganz wichtig, die Wassergasse. In all diesen Straße haben meine Vorfahren aus der 2. bis 4. Generation, also meine Groß- bis Ururgroßeltern gelebt.

Mein erster Weg führt mich die Hindenburgstraße (heute Leninstraße) entlang zum alte Markt. Ich habe schon gehört, dass er als einziges Gebiet in Insterburg schwer von den Bomben des 2. Weltkriegs getroffen wurde. Der Platz sieht zwar nett aus, hat jedoch nichts mehr mit dem alten Markt von vor dem Krieg gemeinsam. Früher stand dort auch die Lutherkirche, in der, wenn ich mich recht entsinne, meine Großmutter getauft wurde. Leider hat die Kirche die englischen Bomben nicht überlebt und ihre Reste wurden in den 1970er Jahren gesprengt. Es stehen nur noch drei Torbögen, durch die man direkt die bekannte Bogenbrücke über die Angerapp erreicht. Ich sehe mich dort kurz um, jedoch zieht es mich weiter zur Pregelstraße, die an der Lutherkirche in den alten Markt mündet.

Die Straße sieht schon auf den ersten Blick seltsam unbewohnt aus und als ich ihr ein wenig folge, merke ich schnell, dass auch hier kein Stein auf dem anderen geblieben ist. Es gibt zwar gelegentlich ein Gebäude, jedoch liegen die Grundstücke links und rechts der Straße meistens brach. Keine Chance, die richtige Hausnummer zu finden oder auch nur eine Idee davon zu bekommen, wo sie gewesen sein könnte. In der Mühlenstraße, die parallel zur Pregelstraße verläuft, bietet sich mir das gleiche Bild. Nichts zu sehen, nichts zu holen. Und auch in der Spritzenstraße finde ich nur die Rückseite eines Supermarktes und viel Brache. Bis hierhin ist das alles eher enttäuschend. Zwar kann ich mir ausmalen, wie meine Vorfahren auf diesen Straßen entlang gegangen sind, aber eigentlich hatte ich mir etwas Handfesteres erhofft.

Ich bemerke, dass ich es bisher vermieden habe, die Wassergasse 7 aufzusuchen. Dies ist die Adresse, die mich am meisten interessiert und gleichzeitig scheue ich mich etwas, dorthin zu gehen. Meine Stimmung wird nicht gerade besser, als ich bemerke, dass die Wassergasse in gelb im Plan eingezeichnet ist. Das bedeutet, dass die Straße heute nicht mehr existiert. Ich gehe dennoch hin, vielleicht gibt es ja Reste in irgendeiner Form.

Ich verlasse die Spritzenstraße, überquere die Königsberger Straße und folge der Obermühlenstraße. Die erste Querstraße, die Lindenstraße, finde ich sofort. Danach käme theoretisch die Wassergasse und wiederum danach die Reformierte Kirchenstraße. Der Abstand zwischen der Lindenstraße und der nächsten sichtbaren „Querstraße“ erscheint mir jedoch im Vergleich zum Plan verdächtig kurz. Deshalb sehe ich mir die Sache genauer an. Das, was wie eine Querstraße aussah, ist keine – dafür ist es aber das, was früher einmal die Wassergasse war. Und an einem offensichtlich aus der Vorkriegszeit erhaltenen Haus prangt deutlich sichtbar die Hausnummer 3. Volltreffer! Naja, zumindest fast, denn das Haus mit der Nummer 3 ist so ziemlich das einzige in diesem Abschnitt der ehemaligen Wassergasse und von der Nummer 5 und 7 ist nichts mehr zu sehen. Stattdessen stehen dort jetzt Garagen aus billigen Steinen und Wellblech, die an die Slums südamerikanischer Großstädte erinnern. Aber zumindest kann ich mit großer Sicherheit sagen, wo das Haus einmal stand. Und das reicht mir.

Ich setze mich kurz in den Schatten und lasse meine Gedanken schweifen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich meine Großmutter und ihre Schwestern als junge Mädchen hier spielen. Immerhin hatten sie zumindest einen Teil ihrer Jugend in dieser Gasse ein intaktes Zuhause, bevor der Krieg begann, irgendwann auch Ostpreußen einholte und sie schließlich im Januar 1945 flüchten mussten.

Der wichtigste Grund meiner Reise ist es, den Kreis zu schließen und das, was da 1945 seinen Anfang nahm so energetisch „kurzzuschließen“, dass sich die Energien von Schock und Trauma entladen und die alten Wunden in allen Generationen endlich heilen können. Zu diesem Zweck habe ich etwas Erde und Blumensamen von meinem Grundstück zuhause mitgebracht. Die Samen und einen Teil der Erde lasse ich in der Wassergasse. Rund um die Wellblechgaragen wuchern alle möglichen Pflanzen – dort werden die Samen im nächsten Frühjahr aufgehen und blühen.
Den Rest der Erde nehme ich wieder mit zum Ort der ehemaligen Lutherkirche. Das Ufer der Angerapp dort hat mir gut gefallen und ich habe vor, dort mit einem kleinen Ritual den Kreis tatsächlich zu schließen. Das Universum meint es gut mit mir, denn ich bin dort auf einer Parkbank quasi alleine, führe mein Ritual durch und übergebe den Rest der Aschaffenburger Erde dem Ufer der Angerapp.

Mein Plan sieht vor, auch etwas von Insterburg mit nach Hause zu nehmen und als erstes springt mir ein Bruchstück eines Backsteines ins Auge. Die alten Häuser hier in Ostpreußen sind oft traditionell aus rotem Backstein mit roten Dächern gebaut – auch so etwas, was mir auf tiefster Ebene bekannt vorkommt. Also nehme ich das kleine Stück Backstein mit. Ein wenig später „drängt“ sich mir noch ein weiterer, natürlicher Stein auf, der unbedingt auch mit nach Aschaffenburg will. Ich erfülle ihm seinen Wunsch. Schließlich finde ich auch noch einige Samen, die ich auch noch mitnehme. Sie werden zuhause einen hübschen Topf erhalten und hoffentlich austreiben.

Puuh … der Hauptteil meiner Aufgabe hier ist erledigt. Um ehrlich zu sein, weiß ich gerade gar nicht, wie ich mich fühlen soll. Erleichtert, aufgewühlt, traurig, froh … Chaos. Ich laufe noch ein wenig durch die Stadt und fotografiere die alten Häuser. Vielleicht werde ich die Bilder meiner Großmutter zeigen.

Es fühlt sich so an, als ob ich noch einige Zeit brauchen werde, um mich selbst wieder zu sortieren. Und die positiven Veränderungen, die meine Reise hoffentlich möglich macht, kommen ohnehin in ihrer eigenen Zeit.

Der Insterburger Wasserturm von der Belowstraße aus gesehen
Der Insterburger Wasserturm von der Belowstraße aus gesehen

Nachdem ich noch meine Wasservorräte im Supermarkt aufgefüllt habe, komme ich ausgelaugt im Hotel an. Fertig für heute. Nachher noch das Abendessen, während dessen ich wieder im ostpreußischen Dialekt baden werde, den eine ganze Reihe von Mitreisenden sprechen, und der mich vor allem an meine beiden Großtanten, die Schwestern meiner Großmutter, erinnert. Interessanterweise ist der Dialekt bei meiner Großmutter selbst nicht so ausgeprägt. Aber über den Grund dafür werde ich wohl ein anderes Mal sinnieren müssen – oder vielleicht wird es mir auch gar nicht gelingen. Ist letztlich auch nicht so wichtig …

Ostreise 5 – Über die Grenze bis Insterburg

Auf allen Ebenen kommen Dinge in Bewegung. Diverse kleine Symptome zeigen mir heute morgen an, dass das insbesondere auch für die körperliche Ebene gilt. Gottseidank bin ich gut Freund mit meinem Körper, so dass wir uns noch vor dem Frühstück darauf einigen, dass ich die Symptome und ihre Botschaft zur Kenntnis nehme, so dass sie dann relativ schnell wieder verschwinden dürfen.

Das Frühstück im Hotel in Thorn ist kurz, aber reichhaltig und gut. Danach trabt die Herde wieder zurück zum Bus und wir setzen uns in Richtung Grenze in Bewegung. Die Route führt über Marienburg und Elbing. Die Klimaanlage im Bus ist Gold wert, denn draußen ist nach wie vor Spätsommer mit über 30°C. Wenn wir nicht gerade auf der Autobahn sind, fahren wir wieder durch endlose Kornfelder, die entweder bereits abgeerntet sind, oder auf denen die Ernte gerade in vollem Gange ist. Zwischendrin sieht man immer wieder kleine Bauernhöfe. Ab und zu fahren wir auch über das Kopfsteinpflaster endlos langer Alleen, die einen ersten Eindruck vom alten Ostpreußen vermitteln.

Der Plan sieht vor, dass wir um die Mittagszeit die russische Grenze bei Heiligenbeil erreichen. Der Fahrer lässt uns wissen, dass die Abfertigung zwischen anderthalb und zwei Stunden dauern wird. Zwischendrin sehe ich einige Male Bilder ich einer Art von Flashbacks. Sie entstammen offensichtlich nicht Erinnerungen … zumindest nicht den meinen. Na das kann ja noch heiter werden 😉

Wir erreichen die Grenze pünktlich. Wer jedoch gedacht hatte, dass sich die Ausreise aus der EU für EU Bürger leicht gestaltet, der wurde herb enttäuscht. Nachdem wir eine halbe Stunde auf der polnischen Seite vor dem leeren Zöllnerhäuschen einfach nur zu gewartet haben, wurden unsere Pässe eingesammelt und elektronisch abgeglichen, was dann gleich noch einmal eine halbe Stunde gedauert hat. Weil der Busfahrer den Motor nicht laufen lassen durfte und wir deswegen während dieser Zeit nicht in den Genuss der Klimaanlage kamen, gab es einigen Unmut. Irgendwann ging es dann doch noch weiter und mit den Durchsagen des Fahrers zum Prozedere auf russischer Seite („Leisten Sie den Anweisungen der Zöllner unbedingt Folge und schießen Sie um Himmelswillen bloß keine Fotos!“) begann der spannende Teil.

Als erstes: Visumkontrolle. Am ersten Schlagbaum geht ein Zöllner durch den Bus und schaut, dass auch alle ein Visum haben. Wir werden gezählt. An der eigentlichen russischen Grenzstation angekommen müssen wir zunächst alle im Bus warten, bis wir von einem Uniformierten aufgefordert wurden, denselben zu verlassen. Dann geht es ab in die Station, wo wir einzeln vortreten und unsere Pässe kontrollieren lassen müssen. Ein intensiver, prüfender Blick, um das Passfoto mit der Realität zu vergleichen, dann ein zufriedenes Grunzen und das klappern des Stempels.

Versehen mit Einreisepapieren („Verlieren Sie die bloß nicht, sonst kommen Sie nicht wieder raus!“) müssen wir in der Station warten, bis alle abgefertigt sind und wir als Gruppe den Bus wieder besteigen dürfen. Nebenbei beobachten wir, wie die Zöllner ein paar Jugendliche, die in Polen wohl ein paar Schnäpse und Biere zuviel gekauft haben, ordentlich mit den Mitteln der Bürokratie malträtieren. Am Ende – so erzählte uns später der Busfahrer – müssen sie zwar den Zoll für die mitgebrachten Spirituosen zahlen, dürfen den „Stoff“ selbst aber nicht mitnehmen. Das wird dann wohl ein rauschendes Fest für die Zöllner heute Abend …

Zurück im Bus, dürfen wir ein kleines Stückchen weiterfahren, nur um dann am nächsten Schlagbaum nochmals durchgezählt zu werden. Nach insgesamt gut zwei Stunden an der Grenze haben wir dann endlich wirklich Russland erreicht.

Die ersten Eindrücke sind schwierig zu beschreiben. Bildlich hat sich zum Osten Polens nicht furchtbar viel verändert. Die quasi durchgehende Kulturlandschaft ist jedoch einer relativ natürlichen Heidelandschaft gewichen, die mir auf eine unbestimmte Art und Weise vertraut vorkommt. Gleichzeitig kommt eine tiefe Traurigkeit über das was da an Wurzeln verloren gegangen ist – nicht nur bei meiner Familie, sondern insgesamt.

Wir fahren durch kleine Orte, in denen noch viele alte Gebäude stehen, die sich jedoch in einem jämmerlichen Zustand befinden. In anderen Städtchen hat man begonnen, die alte Bausubstanz zu restaurieren und stellenweise sieht es besser aus. Als wir uns Königsberg nähern sehen wir auf einmal furchtbar viel Baustellen. Hier wird in Hinblick auf die vier dort stattfindenden Fußballspiele der WM 2018 wie verrückt gebaut.

Einen Teil des Weges von Königsberg nach Insterburg legen wir auf der alten Reichsstraße 1 zurück, die 1392 km lang war und von Aachen über Berlin bis Eydtkuhnen an der litauischen Grenze führte. Stellenweise, das Gefühl hat man jedenfalls, befindet sich auf der Straße noch das originale Pflaster aus den 1930er Jahren. Andere Abschnitte sind in gutem Zustand.

Irgendwann erreichen wir den Kreis Insterburg und Iwan, unser russischer Reiseleiter begrüßt uns mit den Worten „WIllkommen zuhause“. Und irgendwie ist es auch wie zuhause – auf einer ganz tiefen Ebene.

Noch bevor wir ins Hotel fahren, führt uns Iwan auf einer kleinen Tour mit dem Bus durch die Stadt. Die heute entstandenen Fotos sind daher auch nur Schnappschüsse aus dem fahrenden Bus. Der erste Eindruck setzt das fort, was ich schon zuvor gesehen habe: Viel alte Bausubstanz, jedoch größtenteils in erbärmlichem Zustand. Dennoch lässt sich die frühere Schönheit Insterburgs erahnen. Morgen werde ich Zeit haben, die Stadt zu Fuß zu erkunden, und einige alte Wohnadressen meiner Vorfahren abklappern. Bis dahin ist erst einmal Ausruhen angesagt.

Ostreise 1 – Zeitreise

Oft tut es gut, in die eigene Vergangenheit zu reisen, und Orte und Plätze aufzusuchen, mit denen man Erfahrungen verbindet – gute oder schlechte. Manchmal ist es aber auch notwendig noch weiter, in die Vergangenheit der eigenen Familie zu reisen, um zumindest zu versuchen, Dinge zum Abschluss zu bringen, die so lange Zeit offen waren. Ganz besonders, wenn man Vertreibung und Flucht im System seiner Herkunftsfamilie hat.

Das Buch “Nebelkinder” war es, das bei mir das Knöpfchen gedrückt hat, und so habe ich mich auf die Reise gemacht, um Ostpreußen, die Heimat meiner Großmutter und ihrer Vorfahren zu besuchen.

Ostpreußen, ehemals Teil des preußischen und später des Deutschen Reichs, wurde nach dem 2. Weltkrieg im Wesentlichen zwischen Polen und Russland aufgeteilt. Im russischen Teil, in der heutigen Oblast Kaliningrad, liegen Königsberg (Kaliningrad), Insterburg (Tschenjachowsk) und Tilsit (Sowjetsk). Dorthin wird mich meine Reise führen.

Insterburg ist dabei mein eigentliches Ziel, denn dort wurde meine Großmutter geboren und von dort musste sie 1945 als junge Frau ohne Eltern, dafür mit zwei Geschwistern fliehen. Ich kenne einige Adressen von damals, und ich will die Orte aufsuchen, an denen meine Vorfahren bis 1945 gelebt haben.

Nachdem das Buch “Nebelkinder” wie gesagt bei mir auf das Knöpfchen gedrückt hat, war es nur ein kleiner Schritt, im Internet einen Hinweis auf eine Gruppenreise zu finden und Kontakt aufzunehmen. Alleine nach Russland – das wäre aufgrund der etwas schwierigen politischen Situation eine Herausforderung gewesen. Aber auch der Status des ehemals nördlichen Ostpreußens hätte es nicht leichter gemacht.

Die heutige Oblast Kaliningrad ist eine Exklave, das heißt, obwohl sie zur Russichen Föderation gehört, hat sie keine Landverbindung zum russischen Staatsgebiet und wird von Litauen und Polen umschlossen. Nach dem 2. Weltkrieg war die Oblast militärisches Sperrgebiet und man kam nur mit Sondergenehmigungen hinein. Das hat sich erst in den 90er Jahren geändert, woraufhin ein reger Reiseverkehr ehemals Vertriebener einsetzte, die die alte Heimat wiedersehen wollten. Auch wenn die große Welle inzwischen abgeebbt ist, gibt es immer noch regelmäßige Touren dorthin.

Die Gruppe, der ich mich angeschlossen habe, beginnt ihre Reise in Ostwestfalen und fährt über Berlin und Polen nach Kaliningrad. Da hat es sich angeboten, die Familie einzupacken, das Wochenende in Berlin zu verbringen und dann am Montag in den Bus Richtung Osten einzusteigen. Und genau da sind wir jetzt: in Berlin.

Ich werde in den nächsten Tagen mein Reiseblog fortführen – weniger über Berlin sondern hauptsächlich über die Reise nach Osten, in die Vergangenheit meiner Familie. Für heute mache ich erstmal Schluss und wir versuchen in der HItze des Sommers ein wenig Schlaf zu bekommen, damit wir morgen die Sehenswürdigkeiten der Stadt unsicher machen können.

Fernsehturm Berlin