Auf allen Ebenen kommen Dinge in Bewegung. Diverse kleine Symptome zeigen mir heute morgen an, dass das insbesondere auch für die körperliche Ebene gilt. Gottseidank bin ich gut Freund mit meinem Körper, so dass wir uns noch vor dem Frühstück darauf einigen, dass ich die Symptome und ihre Botschaft zur Kenntnis nehme, so dass sie dann relativ schnell wieder verschwinden dürfen.
Das Frühstück im Hotel in Thorn ist kurz, aber reichhaltig und gut. Danach trabt die Herde wieder zurück zum Bus und wir setzen uns in Richtung Grenze in Bewegung. Die Route führt über Marienburg und Elbing. Die Klimaanlage im Bus ist Gold wert, denn draußen ist nach wie vor Spätsommer mit über 30°C. Wenn wir nicht gerade auf der Autobahn sind, fahren wir wieder durch endlose Kornfelder, die entweder bereits abgeerntet sind, oder auf denen die Ernte gerade in vollem Gange ist. Zwischendrin sieht man immer wieder kleine Bauernhöfe. Ab und zu fahren wir auch über das Kopfsteinpflaster endlos langer Alleen, die einen ersten Eindruck vom alten Ostpreußen vermitteln.
Der Plan sieht vor, dass wir um die Mittagszeit die russische Grenze bei Heiligenbeil erreichen. Der Fahrer lässt uns wissen, dass die Abfertigung zwischen anderthalb und zwei Stunden dauern wird. Zwischendrin sehe ich einige Male Bilder ich einer Art von Flashbacks. Sie entstammen offensichtlich nicht Erinnerungen … zumindest nicht den meinen. Na das kann ja noch heiter werden 😉
Wir erreichen die Grenze pünktlich. Wer jedoch gedacht hatte, dass sich die Ausreise aus der EU für EU Bürger leicht gestaltet, der wurde herb enttäuscht. Nachdem wir eine halbe Stunde auf der polnischen Seite vor dem leeren Zöllnerhäuschen einfach nur zu gewartet haben, wurden unsere Pässe eingesammelt und elektronisch abgeglichen, was dann gleich noch einmal eine halbe Stunde gedauert hat. Weil der Busfahrer den Motor nicht laufen lassen durfte und wir deswegen während dieser Zeit nicht in den Genuss der Klimaanlage kamen, gab es einigen Unmut. Irgendwann ging es dann doch noch weiter und mit den Durchsagen des Fahrers zum Prozedere auf russischer Seite („Leisten Sie den Anweisungen der Zöllner unbedingt Folge und schießen Sie um Himmelswillen bloß keine Fotos!“) begann der spannende Teil.
Als erstes: Visumkontrolle. Am ersten Schlagbaum geht ein Zöllner durch den Bus und schaut, dass auch alle ein Visum haben. Wir werden gezählt. An der eigentlichen russischen Grenzstation angekommen müssen wir zunächst alle im Bus warten, bis wir von einem Uniformierten aufgefordert wurden, denselben zu verlassen. Dann geht es ab in die Station, wo wir einzeln vortreten und unsere Pässe kontrollieren lassen müssen. Ein intensiver, prüfender Blick, um das Passfoto mit der Realität zu vergleichen, dann ein zufriedenes Grunzen und das klappern des Stempels.
Versehen mit Einreisepapieren („Verlieren Sie die bloß nicht, sonst kommen Sie nicht wieder raus!“) müssen wir in der Station warten, bis alle abgefertigt sind und wir als Gruppe den Bus wieder besteigen dürfen. Nebenbei beobachten wir, wie die Zöllner ein paar Jugendliche, die in Polen wohl ein paar Schnäpse und Biere zuviel gekauft haben, ordentlich mit den Mitteln der Bürokratie malträtieren. Am Ende – so erzählte uns später der Busfahrer – müssen sie zwar den Zoll für die mitgebrachten Spirituosen zahlen, dürfen den „Stoff“ selbst aber nicht mitnehmen. Das wird dann wohl ein rauschendes Fest für die Zöllner heute Abend …
Zurück im Bus, dürfen wir ein kleines Stückchen weiterfahren, nur um dann am nächsten Schlagbaum nochmals durchgezählt zu werden. Nach insgesamt gut zwei Stunden an der Grenze haben wir dann endlich wirklich Russland erreicht.
Die ersten Eindrücke sind schwierig zu beschreiben. Bildlich hat sich zum Osten Polens nicht furchtbar viel verändert. Die quasi durchgehende Kulturlandschaft ist jedoch einer relativ natürlichen Heidelandschaft gewichen, die mir auf eine unbestimmte Art und Weise vertraut vorkommt. Gleichzeitig kommt eine tiefe Traurigkeit über das was da an Wurzeln verloren gegangen ist – nicht nur bei meiner Familie, sondern insgesamt.
Wir fahren durch kleine Orte, in denen noch viele alte Gebäude stehen, die sich jedoch in einem jämmerlichen Zustand befinden. In anderen Städtchen hat man begonnen, die alte Bausubstanz zu restaurieren und stellenweise sieht es besser aus. Als wir uns Königsberg nähern sehen wir auf einmal furchtbar viel Baustellen. Hier wird in Hinblick auf die vier dort stattfindenden Fußballspiele der WM 2018 wie verrückt gebaut.
Einen Teil des Weges von Königsberg nach Insterburg legen wir auf der alten Reichsstraße 1 zurück, die 1392 km lang war und von Aachen über Berlin bis Eydtkuhnen an der litauischen Grenze führte. Stellenweise, das Gefühl hat man jedenfalls, befindet sich auf der Straße noch das originale Pflaster aus den 1930er Jahren. Andere Abschnitte sind in gutem Zustand.
Irgendwann erreichen wir den Kreis Insterburg und Iwan, unser russischer Reiseleiter begrüßt uns mit den Worten „WIllkommen zuhause“. Und irgendwie ist es auch wie zuhause – auf einer ganz tiefen Ebene.
Noch bevor wir ins Hotel fahren, führt uns Iwan auf einer kleinen Tour mit dem Bus durch die Stadt. Die heute entstandenen Fotos sind daher auch nur Schnappschüsse aus dem fahrenden Bus. Der erste Eindruck setzt das fort, was ich schon zuvor gesehen habe: Viel alte Bausubstanz, jedoch größtenteils in erbärmlichem Zustand. Dennoch lässt sich die frühere Schönheit Insterburgs erahnen. Morgen werde ich Zeit haben, die Stadt zu Fuß zu erkunden, und einige alte Wohnadressen meiner Vorfahren abklappern. Bis dahin ist erst einmal Ausruhen angesagt.