Unter dem Eindruck des “Je suis Charlie”-Phänomens habe ich eine ganze Weile überlegen müssen, ob ich mich dazu äußern will oder nicht. Massenbewegungen, ja man könnte fast “Hysterien” sagen, waren mir schon immer suspekt und meistens suche ich eher das Weite, wenn sich die Menge in Bewegung setzt. Ich habe mich dennoch entschieden, mein Blog dazu zu nutzen, um meinen Senf dazuzugeben. Vielleicht werde ich dafür gesteinigt, vielleicht kann ich aber auch den einen oder anderen dazu bewegen, manche Dinge kritisch zu hinterfragen, anstatt sie unreflektiert nachzuplappern.
Um Vorab eines ganz klar gesagt zu haben: Gewalt lässt sich durch nichts rechtfertigen oder entschuldigen. Das Attentat auf die Charlie Hebdo Redaktion war ein feiger Anschlag auf wehrlose Menschen. Ohne Wenn und Aber.
Was mich beschäftigt ist hingegen die Frage, ob auch ich Charlie bin. Mein Mitgefühl gilt den Opfern und vor allem auch den Hinterbliebenen und Kollegen. Aber möchte ich mich mit der Institution dieses Magazins solidarisieren oder sogar identifizieren?
Ich muss zugeben, bis gestern hatte ich mir die Inhalte des Magazins nicht wirklich angesehen. In den Medien hört man immer von “frecher Satire” – da denke ich zuerst mal an Titanic und Konsorten. Keine Frage, dass auch ich mich hinter Titanic stellen würde (alleine schon aus Gründen der Meinungs- und Pressefreiheit), wenn denen jemand ans Leder wollte.
Durch einen Beitrag von Felix R. Paturi auf Facebook bin ich jedoch neugierig geworden und habe mir via Google mal die Titelbilder von Charlie Hebdo angeschaut, die so im Netz herumspuken. Oft geht es dabei um Kirchen und Religion – Christentum, Judentum und Islam sind allesamt im Zielkreuz.
Ich selbst gehöre keiner organisierten Religion an und bin kein Freund der Kirchen. In meinen Augen sind sie vor allem Institutionen der Machtausübung über die Menschen und deshalb ist es richtig und notwendig, sie für alles Kritikwürdige auch zu kritisieren. Der Papst ist mir Wurscht und wenn jemand einen guten Witz über Jesus, Mohammed oder Jahwe macht, dann bin ich der letzte, der sich bemüßigt fühlt, nicht zu lachen oder sogar den Gutmenschen heraushängen lässt.
Die Grenze zwischen einem Witz und Satire auf der einen, und Respektlosigkeit auf der anderen Seite ist jedoch fließend. Ersteres muss immer möglich sein und hilft dabei, Menschen einen Spiegel vorzuhalten, die das Thema Religion vielleicht etwas zu ernst nehmen. Letzteres muss zwar auch möglich sein (da wären wir wieder beim Thema Meinungsfreiheit), ist in meinen Augen aber überflüssig. Muss ich wirklich bewusst und immer wieder Dinge sagen oder publizieren, von denen ich schon im Voraus weiß, dass sie die Gefühle vieler Menschen verletzen?
Die Titelbilder von Charlie Hebdo (und wahrscheinlich auch die Inhalte der Hefte) sind oft vulgär und dazu geeignet und gemacht, religiöse Gefühle zu verletzen. Es werden unter anderem Dinge gezeigt wie Vater, Sohn und heiliger Geist beim Analverkehr, oder ein Muslim, der, von Kugeln durchsiebt, einen Koran vor sich hält und sagt: “Der Koran ist scheiße – er hält noch nicht einmal Kugeln ab”.
Ich bin weder Christ, noch Jude, noch Muslim. Ich glaube nicht an die Lehren der Kirchen und es gibt unendlich viele Dinge, die ich sowohl an den Religionen als auch an den Institutionen der Kirchen kritisiere. Aber ich respektiere es, wenn jemand anderes an diese Lehren glaubt, genauso wie ich erwarte, dass mein Gegenüber mein Weltbild respektiert.
Eben an diesem Respekt mangelt es Charlie Hebdo in meinen Augen. Deshalb trauere ich um die Menschen, die zu Tode gekommen sind und fühle mit den Hinterbliebenen. Aber ich solidarisiere mich nicht mit dem Magazin als Institution. Nur, weil es Ziel eines Anschlags geworden ist, wird aus einem respektlosen Blatt keine Kunst.
Bin ich also auch Charlie Hebdo? Klare Antwort: Non, je ne suis pas Charlie!
Äh – “Je suis Charlie” – bedeutet NICHT diese Zeitschrift zu liken
– es ist vielmehr die Antwort auf den Angriff auf Meinungsfreiheit
von Menschen, die AUCH ihre Meinung frei äußern möchten…
– Nicht mehr und nicht weniger –
Dazu möchte ich mich selbst aus einer Diskussion bei Facebook zu dem Thema zitieren:
Ich weiß, dass ich die CH Magazine weder kaufen noch lesen muss – das tue ich auch nicht. Ich bin auch nicht der Meinung, dass dieses Magazin nicht veröffentlicht werden sollte, weil xyz. Ich bin lediglich der Meinung, dass ich dieses Magazin weder für künstlerisch, wertvoll für das Überleben der freien Gesellschaft wichtig halte. Insbesondere sehe ich durch diesen Anschlag das Recht auf freie Meinungsäußerung als Ganzes nicht als gefährdet an.
Wenn man jemanden beleidigt und dafür eine auf’s Maul bekommt, dann ist das zwar nicht gerechtfertigt und muss bestraft werden, es läutet aber nicht gleich den Untergang der Freiheitlich-demokratischen Grundordnung ein.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Volksseele in den letzten Jahren ganz besonders nach Dramen lechzt und jede Gelegenheit wahrnimmt um sich für oder gegen etwas zu solidarisieren. Interessanterweise handelt es sich dabei in der Regel um – global gesehen – Lappalien. Die richtig großen Schweinereien lassen uns dagegen kalt.
Herr Sann,
das Massaker in Paris als Lappalie zu bezeichnen halte ich für perfide.
Wen Sie mit “uns” meinen, wenn sie behaupten: ” Die richtig großen Schweinereien lassen uns dagegen kalt.” möchte ich gar nicht erahnen wollen.
Ich grüße Sie mit einem Zitat von Evelyn Beatrice Hall:
“Ich verachte Ihre Meinung, aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie sagen dürfen”
Sabine Weber
Liebe Frau Weber,
wenn jemand sich aufregen möchte, dann ist es egal, was man sagt – er, oder in diesem Fall sie, wird sich trotzdem aufregen.
Deshalb werde ich nicht weiter darauf eingehen, warum der Tod einer Handvoll Journalisten in Paris zwar tragisch, global und im Vergleich mit beispielsweise der Anzahl der Menschen betrachtet, die täglich verhungert, ohne dass wir etwas dagegen tun, jedoch tatsächlich eine Lappalie ist.
Mir ist auch leider kein Zitat eingefallen, das dazu geeignet wäre, Ihnen dabei zu helfen, über ihre Verachtung für meine Meinung hinwegzukommen, deshalb kann ich nur hoffen, dass Sie dieses wirklich unangenehme Gefühl auch ohne meine Hilfe überwinden können. Ich wünsche es Ihnen von Herzen.
Liebe Grüße
Carsten Sann