Urteile nie! Oder besser doch?

Warum (Wert-) Urteile in der Natur des Menschen liegen und warum es nicht gut ist, diese Natur vollständig unterdrücken zu wollen.

Die Idee „Urteile nie“ stammt ursprünglich aus dem Yoga und der Philosophie des Advaita Vedanta, einer Schule der indischen Philosophie. Sie besagt, dass jeder Mensch seine eigene Sicht auf die Dinge hat und dass es daher unklug ist, schnell zu urteilen oder zu verurteilen. Es wird vorgeschlagen, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind und die Menschen zu verstehen, anstatt sie zu beurteilen.

Aber selbst, wenn wir die Beweggründe anderer verstehen und versuchen, ihre Perspektive einzunehmen, ist es dann nicht menschlich und in vielen Situationen auch sehr sinnvoll zu urteilen? Zum Beispiel um eine Entscheidung treffen zu können oder auch um auszudrücken, was oder wie wir gerade empfinden? Vielleicht ist ein Urteil ja auch erst einmal eine Arbeitsannahme auf deren Grundlage wir handlungsfähig sind und wir können diese wieder revidieren, wenn wir die Situation, das Gefühl oder beteiligte Personen später anders bewerten.

Dass wir im Umgang mit anderen Menschen respektvoll sind, wenn wir bewerten oder urteilen, versteht sich von selbst und trotzdem macht es etwas mit uns, wenn wir durch Mitmenschen be- oder verurteilt werden oder nur die Idee haben, dass dies geschieht. Gehört der Stress diesbezüglich genauso zu unserem Setup wie die Veranlagung zu urteilen?

Unser Fazit: Urteilen gehört zum Menschsein notwendiger Weise dazu. Und auch bei diesem Thema geht es um den bewussten Umgang mit der eigenen Veranlagung zu urteilen und ebenso damit, wie wir darauf reagieren, wenn wir uns be- oder verurteilt fühlen.

Sollte Euch diese Folge gefallen haben, Ihr sie also als hörenswert beurteilen, dann lasst uns das gerne wissen und schreibt uns eine E-Mail an feedback@ukgw.de. Genauso gerne lesen wir Eure Ideen und Argumente zu diesem Thema, wenn Ihr anderer Meinung seid als wir.

Die zu Beginn der Folge erwähnte Geschichte „Urteile nie!“ findet Ihr hier:
https://mensch-sein-heute.blog/2012/05/urteile-nie/

Unsere Folge „Das Monster im Manne“ https://www.youtube.com/watch?v=YHDyzieYD5Q

Unsere beiden Folge über den Psychotherapeuten Alfred Adler
https://youtu.be/VM91Maa_yGo
https://youtu.be/KOCkkKPsgiU

Daniel Mapel, von dem wir viel über den Umgang mit Emotionen und über die Heilung seelischer Wunden gelernt haben, kommt im März nach Aschaffenburg!
https://essenzen.blog/2022/12/the-healing-path-workshop-im-maerz-2023/

Sandra Epsteins Buch zum Thema emotionale Fitness
https://www.essenzenladen.de/de/essenzen/araretama/buecher-karten/311/das-araretama-mandala

Urteile nie!

Es gab einmal in einem Dorf einen alten Mann, der sehr arm war, aber trotzdem von Königen beneidet wurde, denn er besaß ein schönes Pferd.

Ein Pferd von solcher Qualität war noch nie gesehen worden, solche Schönheit, solcher Stolz, solche Stärke! Könige bewarben sich um das Pferd und boten fabelhafte Preise, aber der alte Mann kannte nur eine Antwort:

“Dieses Pferd ist für mich kein Pferd, sondern ein Freund, es ist kein Besitz. Soll ich einen Freund verkaufen? Nein, das kommt nicht in Frage.”

Der Mann war arm und hatte allen Grund, der Versuchung zu erliegen, aber er verkaufte das Pferd nie.

Eines Morgens entdeckte er plötzlich, dass das Pferd nicht mehr im Stall war. Das ganze Dorf versammelte sich und alle sagten:

“Das hast du nun davon, du alter Narr! Wir haben es vorher gewusst, eines Tages musste das Pferd ja gestohlen werden! Denn wie hättest du bei deiner Armut einen solchen Schatz richtig behüten können? Du hättest besser daran getan, das Pferd zu verkaufen. Du hättest astronomische Summen dafür verlangen können, jeden Phantasiepreis! Jetzt ist das Pferd weg. Jetzt siehst du, was für ein Fluch, was für ein Unglück es für dich war.”

Der alte Mann sagte:

“Ihr müsst nicht übertreiben! Sagen wir einfach: Das Pferd ist nicht im Stall. Das ist die einzige Tatsache, alles andere ist Interpretation. Ob es nun ein Unglück ist oder nicht, wie wollt ihr das wissen? Wie könnt ihr das beurteilen?”

Die Leute sagten:

“Uns kannst du nichts vormachen. Wir mögen zwar keine großen Philosophen sein, aber hier braucht man auch keine Philosophie. Es ist eine klare Tatsache, dass ein Schatz verloren gegangen ist, und das ist ein Unglück.”

Der alte Mann erwiderte:

“Ich bleibe dabei: Die einzige Tatsache ist, dass der Stall leer ist und das Pferd fort ist. Darüber hinaus weiß ich nicht, ob Unglück oder Segen, denn so ein Urteil ist begrenzt und niemand weiß, was noch kommt. “

Er wurde ausgelacht.

Die Leute hielten den alten Mann für verrückt, Sie hatten es schon immer gewusst, dass er nicht richtig im Kopf war, sonst hätte er ja sein Pferd verkauft und in Saus und Braus gelebt… Stattdessen fristete er sein Leben als Holzfäller. Obwohl er sehr alt war, fällte er immer noch Bäume, brachte das Holz aus dem Wald und verkaufte es. Er lebte jetzt von der Hand in den Mund, hatte nur das Nötigste und nie wirklich genug. Aber jetzt war ihnen das endgültig klar, dass er verrückt war.

Nach vierzehn Tagen kam plötzlich eines Nachts das Pferd zurück. Es war nicht gestohlen worden, es war nur in die Wildnis gelaufen. Es kam nicht nur zurück, sondern es brachte auch noch zwölf andere Wildpferde mit.

Und wieder kamen die Leute zusammen und sagten:

“Alter, du hast Recht gehabt, wir haben uns geirrt. Es war kein Unglück, sondern ein Segen. Es tut uns leid, dass wir dir Vorwürfe gemacht haben.”

Und der alte Mann sagte:

“Ihr geht schon wieder zu weit. Könnt ihr nicht einfach sagen, dass das Pferd zurück ist und dass es zwölf andere Pferde mitgebracht hat? Warum urteilt ihr? Wer will wissen, ob es ein Segen ist oder nicht? Es ist nur ein Bruchstück, und wenn man den ganzen Zusammenhang nicht kennt, wie kann man dann urteilen? Wie könnt ihr über ein Buch urteilen, wenn ihr nur eine Seite gelesen habt? Wie könnt ihr über eine ganze Seite urteilen, wenn ihr nur einen Satz gelesen habt? Wie könnt ihr über einen Satz urteilen, wenn ihr nur ein Wort davon gelesen habt? Und was ihr in der Hand haltet, ist weniger als ein Wort – das Leben ist so unendlich! Ihr habt nur das Bruchstück eines Wortes in der Hand und habt über die ganze Welt geurteilt. Sagt also nicht, dass dies ein Segen ist, denn wer weiß…. Und ich bin völlig damit zufrieden, dass ich es nicht weiß. Lasst mich also bitte in Ruhe.”

Dieses Mal hielten die Leute den Mund. Vielleicht hatte der alte Mann ja wieder Recht.

Also sagten sie nichts, aber im Stillen wussten sie natürlich, dass er sich irrte.

Zwölf herrliche Pferde waren mit dem einen Pferd zurückgekommen! Wenn sie ein bisschen eingeritten wurden, könnten sie bald alle verkauft werden und massenhaft Geld einbringen.

Der alte Mann hatte einen jungen Sohn, es war sein einziger. Dieser Sohn begann nun die Wildpferde zu zähmen. Eine Woche später stürzte er von einem der Pferde und brach sich beide Beine.

Wieder kamen die Leute zusammen. Und die Leute sind überall die “Leute” und überall sind sie wie ihr. Und wieder urteilten sie sofort. Wie schnell so ein Urteil feststeht!

Sie sagten:

“Du hattest Recht. Was du geahnt hast, hat sich wieder einmal bestätigt. Es war kein Segen, es war doch ein Unglück. Dein einziger Sohn hat seine Beine verloren! Wer soll jetzt die Stütze deiner alten Tage sein? Jetzt bist du ärmer denn je.”

Der alte Mann sagte:

“Könnt ihr denn nicht ein Mal aufhören mit eurem Urteil? Ihr geht schon wieder zu weit…sagt einfach, dass mein Sohn seine Beine gebrochen hat. Keiner weiß, ob das nun ein Glück oder ein Unglück ist. Keiner! Es ist wieder nur ein Bruchstück, und wir bekommen nie mehr als ein Bruchstück zu sehen. Das Leben zeigt sich nur in Fragmenten, aber unsere Urteile fällen wir immer über das Ganze.”

Ein paar Wochen später geschah es, dass ein Krieg mit dem Nachbarland ausbrach, und alle jungen Männer wurden zur Armee eingezogen. Nur der Sohn des alten Mannes blieb zurück, weil er ein Krüppel war. Die Leute kamen zusammen, weinend und klagend, denn aus jedem Haus wurden die jungen Männer mit Gewalt abgeholt. Und es bestand keine Aussicht, dass sie je wiederkämen, denn das Land mit dem Krieg geführt wurde, war ein sehr großes Land, und die Schlacht war von vorneherein verloren. Also würden sie nicht zurückkommen… Das ganze Dorf weinte und klagte und sie kamen zu dem alten Mann und sagten:

“Wie Recht du hattest Alter! Weiß Gott, wie Recht du hattest, es war ein Segen: Dein Sohn mag zwar ein Krüppel sein, aber wenigstens bleibt er bei dir. Unsere Söhne werden wir nie wieder sehn. Er wenigstens lebt und ist bei dir, und nach und nach wird er schon wieder das Laufen lernen. Vielleicht wird er noch ein bisschen humpeln, aber er wird wieder in Ordnung kommen.”

Der alte Mann wehrte ab:

“Es ist einfach unmöglich, mit euch Leuten zu reden. Ihr könnt es einfach nicht lassen – ewig diese Urteile. Niemand weiß etwas! Sagt doch nur, dass eure Söhne in die Armee geholt worden sind und mein Sohn nicht. Aber ob das nun ein Segen ist, oder ein Unglück, das weiß niemand. Kein Mensch wird das je wissen. Nur Gott allein weiß es.”

Und wenn wir sagen: “Nur Gott weiß es”, dann heißt das, dass nur das Ganze es weiß.

Urteile nicht, sonst wirst du dich nie mit dem Ganzen vereinigen können. Dann wirst du immer nur an den Bruchstücken kleben und aus den geringsten Anlässen große Schlüsse ziehen. Wie leicht vergisst du, dass es Dinge gibt, die über deinen eigenen Horizont hinausgehen.

Also urteile nie!

Laotse